„Solidarisch mit Bosch“
Zur Wiedereröffnung der Akademie der bildenden Künste Wien hat das Raqs Media Collective aus Neu-Delhi die Gemäldegalerie bestückt. Ein Gespräch über Gegenwart und Vergangenheit, neue Sichtweisen und einen Aal.
Nach dreieinhalb Jahren Generalsanierung ist alles beim Alten. Oder – doch nicht! Zurück in ihren Räumlichkeiten, zeigt sich die Gemäldegalerie mit ihrer großen Eröffnungsausstellung Hungry for Time in ungewohnter Weise. Werken aus den drei Sammlungen der Akademie der bildenden Künste – Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett und Glyptothek – wird zeitgenössische Kunst gegenübergestellt. Das indische Künstler-Kuratorinnen-Kollektiv Raqs Media Collective wurde für die Gestaltung eingeladen und lädt seinerseits zu „epistemischem Ungehorsam“und so zu neuer Sicht auf Bekanntes.
Standard: Bei der Eröffnung sagten Sie, die Einladung sei ziemlich „außergewöhnlich“für Sie gewesen. Wieso?
Raqs Media Collective: Normalerweise arbeiten wir nur mit zeitgenössischer Kunst. Mit einer historischen Sammlung ist das ein ganz anderes Setting. Wir beschäftigen uns zwar oft mit Archiven und blicken aus der Gegenwart zurück. So ein Material zur Verfügung zu haben war großartig. Wir konnten mit fast 600 Jahren Kunstgeschichte spielen!
Standard: Welche Methoden nützen Sie?
Raqs: Die Ausstellung ist ein Prozess. Wir brechen mit Chronologien, kreieren Störungen, vermischen und setzen wieder zusammen – womit sich neue Formen des Erzählens ergeben. Dafür nützen wir unterschiedliche Arten von Storytelling und Erinnerung. Wir schaffen eine Sichtweise aus der Gegenwart, deplatzieren die Werke dafür aber nicht, sondern machen einen zeitgemäßen Blick auf sie möglich. Es gibt mehrere Schichten, aus denen die Ausstellung besteht. Diese zu erforschen, dazu laden wir ein.
Standard: Sie verbinden Werke aus den Sammlungen mit weniger prominenten Positionen. Welche wären das zum Beispiel?
Raqs: Die Werke von Bosch, Tizian oder Dürer kennen die meisten. Wir waren daran interessiert, auch unbekanntere Künstler aus der Gegenwart zu zeigen. Viele etwa aus Indien haben wir ausgesucht, weil sie provokante Positionen vertreten. Wie Rajyashri Goody, die in ihrem Video einen Text über das Kastensystem zerreißt und zu Skulpturen zusammensetzt. Solche Gesten bieten spezifische Lesarten historischen Materials, die auch auf die Sammlung umgelegt werden können. Wie kann diese heute gelesen werden, ohne durch ihre kunsthistorische Prominenz einzuschüchtern?
Standard: Sie haben unzählige Kunstwerke in den drei Sammlungen durchforstet. Welche Entdeckungen haben Sie dort gemacht?
Raqs: Der Idee von Hungry for Time als konzeptionellem Spiel liegt der Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart zugrunde. Wir haben Motive als Anhaltspunkte genommen und sie in anderen Werken gesucht. So beispielsweise auch den Aal – den wir bei Hieronymus Bosch gefunden haben.
Standard: Wie kommen Aale ins Spiel? Raqs: Es sind sehr mysteriöse Kreaturen. Ihr Aussehen kann von kleinen Würmern bis zu großen Seeschlangen variieren. Sie widerstehen, verstanden zu werden, und passen deswegen gut in die Ausstellung. Ausgehend von der Geschichte des jungen Sigmund Freud, der 400 Aale sezierte, um ihre Sexualität zu ergründen, konzentrieren wir uns auf den Aal auf dem Außenflügel von Boschs Weltgerichtstriptychon.
Standard: Ist das auch sicher ein Aal?
Raqs: Das wissen weder wir, noch wusste es Hieronymus Bosch.
Standard: Wieso zeigen Sie das Highlight der Gemäldegalerie nur einen Spalt weit geöffnet? Raqs: Wenn eine Ausstellung versucht, mit gewohnten Sichtweisen zu brechen, muss sie auch den Bosch hinterfragen und einen neuen Blick wagen. Wir zeigen die Videoarbeit des Kollektivs Discursive Justice Ensemble, das die Rückreise des Triptychons in die Gemäldegalerie dokumentiert. Und stellen die Außenflügel mit den zwei Heiligen in den Fokus. Der Aal zu Füßen des heiligen Jakob steht für eine andere Form der Narration von Wissen. Für die große Wiedereröffnung bieten wir diesen ungewohnten Anblick. Es war von Bosch so intendiert, das Triptychon nur zu speziellen Anlässen zu öffnen. Wir zeigen uns solidarisch mit dem Künstler.
Standard: Weshalb findet man so wenig an Informationstexten in dieser Schau?
Raqs: Wenn eine Ausstellung zu viel Informationen und singuläre Narrationen liefert, dann nimmt das dem Publikum natürlich die Chance, Dinge für sich selbst herauszufinden. Es soll aber Neues entdecken. Unterschiedliche Menschen sollen so viele unterschiedliche Ausstellungen in der Ausstellung selbst finden wie nur möglich.