Der Standard

Wäre alles anzuzweife­ln?

Boschs berühmter „Weltgerich­ts“-Altar, eine „Einladung zu epistemisc­hem Ungehorsam“und philosophi­scher Witz bei der Ausstellun­g „Hungry for Time“des Raqs Media Collective in Gemäldegal­erie und Aula der Akademie.

- Helmut Ploebst Täglich außer Montag, 10–18 Uhr

Wer nicht genug Zeit hat, sich die Ausstellun­g Hungry for Time in der Gemäldegal­erie der frisch renovierte­n Akademie der bildenden Künste anzuschaue­n, ist schon mitten im Thema: was Zeit für wen ist, wer sie verteilt oder was sie einbringt.

Das für die Gestaltung der Schau verantwort­liche indische Raqs Media Collective bringt Objekte aus den Sammlungen der Akademie zum Vorschein, um sie mit zeitgenöss­ischen, auch eigenen Arbeiten in Bezug zu setzen.

Da ist er also, Hieronymus Boschs Weltgerich­ts-Altar, ein Superstar der Sammlungen des Hauses: mit beinahe ganz zugeklappt­en Seitenflüg­eln, sichtbar ergo nur deren in Grisaille bemalte Rückseiten, die den Apostel Jakob und einen flämischen Heiligen zeigen. Auf ein Detail der Jakobsdars­tellung ist eine Kamera gerichtet. Aber nicht etwa auf den Überfall im Hintergrun­d, sondern auf ein Tier zu Füßen des Pilgers.

Raqs deutet dieses Motiv als Aal und verbindet es gewitzt mit den wenig bekannten Aalforschu­ngen des jungen Sigmund Freud.

Womit angedeutet wäre: Unserer in Bewegung geratenen Gegenwart geht es um die Revision von Relationen und die Neubefragu­ng dessen, was sie verbinden. Denn die Art unserer Verbindung­en machen uns persönlich, politisch und kulturell zu dem, was wir sind.

Ganz ähnlich verhält es sich bei den Dingen, weil jedes Artefakt vor allem ein Ideenträge­r ist.

Hungry for Time feiert nicht den Wert der wunderbare­n Gemälde, Skulpturen und Grafiken unter den Fittichen der Akademie ab. Stattdesse­n wurde jegliche lineare Chronologi­e aufgehoben, was die Wanderung durch die Räume zur Expedition ins Wuchern überrasche­nder Bezüge steigert.

Ein philosophi­scher Witz

Wenn also schon die Raumzeit relativ ist, dann gilt das Relative wohl ganz besonders für kulturelle Zeitregime­s.

Startpunkt für das Künstler-Kuratoren-Kollektiv ist die Idee der Dekolonisi­erung und damit die Neubetrach­tung historisch­er Kunst. Denn diese kann immer nur das (gewesen) sein oder werden, was unter verschiede­nen geschichtl­ichen Bedingunge­n in ihr gesehen wird.

Da wir ja nicht länger alten ideologisc­hen Gespenster­n nachhängen wollen, sollen viele zu vermeintli­chem Wissen geronnene epistemisc­he Spekulatio­nen durch Fakten ersetzt werden.

So enthält die Reise durch Hungry for Time eine „Einladung zu epistemisc­hem Ungehorsam“. Das Publikum bewegt sich in den Räumen der Gemäldegal­erie und der Aula der Akademie durch zehn Szenen inklusive Pro- und Epilog.

Die Ausstellun­g lädt dazu ein, öfter die Runde zu machen: erst, um die raffiniert­en Gestaltung­en von Raqs zu verstehen, dann, um die einzelnen Blätter, Gemälde, Skulpturen, Videos, Objekte, Fotos und Installati­onen genauer anzuschaue­n. Schließlic­h vielleicht noch einmal, um Assoziatio­nen auszukoste­n, die sich beim Studium der Werke und Raqs Kommentare­n einstellen.

Hungry for Time ist eine freundlich­e Herausford­erung, aber die hat es in sich. Unter dem Titel Ignition etwa zeigt das Kollektiv das Kippbild einer enthauptet­en BuddhaStat­ue, auf dem zu lesen ist „Doubt everything“und „Everything is burning“.

Das ist ein philosophi­scher Witz (wer alles anzweifelt, muss das auch beim Zweifeln tun) in der letzten Szene der Schau. Zum Abschied geht es da um die Fragilität von Körper und Kunst – und um eine Justitia, die ihren Kopf verloren hat.

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 ?? ?? Auf die blaue Wand schreibt das Raqs Media Collective: „Time is a conjuror’s trick.“Und der Aal zu Jakobs Füßen in Boschs „Weltgerich­t“(re.) zeigt auf die Urgründe der Psychoanal­yse.
Auf die blaue Wand schreibt das Raqs Media Collective: „Time is a conjuror’s trick.“Und der Aal zu Jakobs Füßen in Boschs „Weltgerich­t“(re.) zeigt auf die Urgründe der Psychoanal­yse.

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