Wäre alles anzuzweifeln?
Boschs berühmter „Weltgerichts“-Altar, eine „Einladung zu epistemischem Ungehorsam“und philosophischer Witz bei der Ausstellung „Hungry for Time“des Raqs Media Collective in Gemäldegalerie und Aula der Akademie.
Wer nicht genug Zeit hat, sich die Ausstellung Hungry for Time in der Gemäldegalerie der frisch renovierten Akademie der bildenden Künste anzuschauen, ist schon mitten im Thema: was Zeit für wen ist, wer sie verteilt oder was sie einbringt.
Das für die Gestaltung der Schau verantwortliche indische Raqs Media Collective bringt Objekte aus den Sammlungen der Akademie zum Vorschein, um sie mit zeitgenössischen, auch eigenen Arbeiten in Bezug zu setzen.
Da ist er also, Hieronymus Boschs Weltgerichts-Altar, ein Superstar der Sammlungen des Hauses: mit beinahe ganz zugeklappten Seitenflügeln, sichtbar ergo nur deren in Grisaille bemalte Rückseiten, die den Apostel Jakob und einen flämischen Heiligen zeigen. Auf ein Detail der Jakobsdarstellung ist eine Kamera gerichtet. Aber nicht etwa auf den Überfall im Hintergrund, sondern auf ein Tier zu Füßen des Pilgers.
Raqs deutet dieses Motiv als Aal und verbindet es gewitzt mit den wenig bekannten Aalforschungen des jungen Sigmund Freud.
Womit angedeutet wäre: Unserer in Bewegung geratenen Gegenwart geht es um die Revision von Relationen und die Neubefragung dessen, was sie verbinden. Denn die Art unserer Verbindungen machen uns persönlich, politisch und kulturell zu dem, was wir sind.
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Dingen, weil jedes Artefakt vor allem ein Ideenträger ist.
Hungry for Time feiert nicht den Wert der wunderbaren Gemälde, Skulpturen und Grafiken unter den Fittichen der Akademie ab. Stattdessen wurde jegliche lineare Chronologie aufgehoben, was die Wanderung durch die Räume zur Expedition ins Wuchern überraschender Bezüge steigert.
Ein philosophischer Witz
Wenn also schon die Raumzeit relativ ist, dann gilt das Relative wohl ganz besonders für kulturelle Zeitregimes.
Startpunkt für das Künstler-Kuratoren-Kollektiv ist die Idee der Dekolonisierung und damit die Neubetrachtung historischer Kunst. Denn diese kann immer nur das (gewesen) sein oder werden, was unter verschiedenen geschichtlichen Bedingungen in ihr gesehen wird.
Da wir ja nicht länger alten ideologischen Gespenstern nachhängen wollen, sollen viele zu vermeintlichem Wissen geronnene epistemische Spekulationen durch Fakten ersetzt werden.
So enthält die Reise durch Hungry for Time eine „Einladung zu epistemischem Ungehorsam“. Das Publikum bewegt sich in den Räumen der Gemäldegalerie und der Aula der Akademie durch zehn Szenen inklusive Pro- und Epilog.
Die Ausstellung lädt dazu ein, öfter die Runde zu machen: erst, um die raffinierten Gestaltungen von Raqs zu verstehen, dann, um die einzelnen Blätter, Gemälde, Skulpturen, Videos, Objekte, Fotos und Installationen genauer anzuschauen. Schließlich vielleicht noch einmal, um Assoziationen auszukosten, die sich beim Studium der Werke und Raqs Kommentaren einstellen.
Hungry for Time ist eine freundliche Herausforderung, aber die hat es in sich. Unter dem Titel Ignition etwa zeigt das Kollektiv das Kippbild einer enthaupteten BuddhaStatue, auf dem zu lesen ist „Doubt everything“und „Everything is burning“.
Das ist ein philosophischer Witz (wer alles anzweifelt, muss das auch beim Zweifeln tun) in der letzten Szene der Schau. Zum Abschied geht es da um die Fragilität von Körper und Kunst – und um eine Justitia, die ihren Kopf verloren hat.