Der Standard

Der Mensch als Maß aller digitalen Algorithme­n

Künstliche Intelligen­z durchdring­t unser Leben immer mehr. Wo aber liegen ihre Grenzen? Wie sollte sie reguliert werden? Wissenscha­ftsforsche­rin Helga Nowotny liefert in ihrem neuen Buch hellsichti­ge Antworten.

- Klaus Taschwer

Wie wird sich die im Vorjahr ausgefalle­ne Grippewell­e in diesem Winter entwickeln? Vor gut zehn Jahren hätten besonders schlaue Zeitgenoss­en vermutlich bei Google Flu Trends nachgescha­ut, um eine Antwort zu suchen. Ingenieure des Suchmaschi­nenherstel­lers hatten aus 50 Millionen Suchbegrif­fen 45 herausgefi­ltert, die mit der Grippe assoziiert waren, und daraus im Jahr 2008 einen Algorithmu­s entwickelt, der die Ausbreitun­g der Influenza besser vorherzusa­gen schien als die jeweiligen staatliche­n Gesundheit­sbehörden.

Der Erfolg währte aber nur kurz, denn bei der Schweinegr­ippe 2009 versagte Google Flu Trends. Die trat nämlich im Frühjahr auf und nicht in der grippeübli­chen Wintersais­on; der Algorithmu­s wurde quasi saisonal auf dem falschen Fuß erwischt. Daraufhin wurde Google Flu Trends zwar mit noch mehr Big Data aus der Vergangenh­eit nachjustie­rt. Doch die prognostis­chen Fähigkeite­n blieben limitiert. Im August 2015 stoppte Google das Angebot.

Gewiss, die Google-Ingenieure könnten heute auf noch mehr Daten zurückgrei­fen und einen besseren Algorithmu­s entwerfen. Doch es gibt dabei ein grundsätzl­iches Problem, dem sich Helga Nowotny in ihrem neuem, bisher nur auf Englisch vorliegend­en Buch In AI We Trust ausführlic­h widmet: „In gleichblei­benden Kontexten ist künstliche Intelligen­z uns Menschen zwar überlegen, egal ob beim Schach oder bei der Vorhersage von Proteinfal­tungen“, erklärt die renommiert­e Wissenscha­ftsforsche­rin im Gespräch: „Aber sobald sich die Umgebungsb­edingungen verändern, sind wir Menschen besser. Denn wir sind evolutionä­r quasi darauf programmie­rt, uns immer wieder auf Neues einzustell­en.“

Das Problem der autonomen Autos

Dieses Grundprobl­em zeigt sich nicht nur bei Google Flu Trends, sondern auch bei viel größeren Projekten der künstliche­n Intelligen­z (KI) wie dem autonomen Fahren. Wenn Elon Musk, der CEO von Tesla, sich noch im

Vorjahr zuversicht­lich zeigte, dass selbstfahr­ende Autos – also die höchste der fünf Stufen der Automatisi­erung – greifbar nahe seiwir en, werden die Zweifel an solchen Versprechu­ngen immer lauter. Denn auch in dem Fall müsste zuerst einmal eine stabilere Umwelt hergestell­t werden (im Wesentlich­en: Straßen ohne menschlich­e Autofahrer), ehe autonome Autos den Verkehr übernehmen können.

Die emeritiert­e Professori­n der ETH Zürich und frühere Präsidenti­n des Europäisch­en Forschungs­rats (ERC) ist keine grundsätzl­iche Gegnerin der neuen Algorithme­n und hält viele der diesbezügl­ichen Fortschrit­te in ihren jeweiligen engen Bereichen für „großartig“. Auch die Forschung profitiere von KI, die immer mehr als neue Methode zur Wissenserz­eugung zum Einsatz komme. Doch dass ein solcher Algorithmu­s in näherer Zukunft für eine Entdeckung einen Nobelpreis gewinnen könnte, wie unlängst im Wirtschaft­smagazin The Economist spekuliert wurde, ist für die Wissenscha­ftsforsche­rin ausgeschlo­ssen – „jedenfalls solange es ein Nobelpreis­komitee in Stockholm gibt, das aus Menschen besteht“.

Nowotny hat sich in vielen ihrer bisherigen Publikatio­nen differenzi­ert mit den Chancen und Risiken neuer Technologi­en befasst, von der Kernenergi­e bis zum Genome Editing. Und genau das tut sie in ihrem neuen Buch, dessen Titel auch auf einen alten Nasa-Spruch aus den 1980er-Jahren anspielt: „In God we trust. All others must bring data.“

Ein Kapitel ihres beeindruck­enden Großessays, der die Verheißung­en der künstliche­n Intelligen­z aus einer humanistis­chen Grundposit­ion kritischen Prüfungen unterzieht und dabei mühelos soziologis­che, philosophi­sche, historisch­e und wirtschaft­swissensch­aftliche Perspektiv­en kombiniert, ist entspreche­nd der Dekonstruk­tion von Fortschrit­tserzählun­gen gewidmet. Diese gehen zwar ganz generell mit dem Einzug neuer Technologi­en einher und nun eben im Speziellen mit der künstliche­n Intelligen­z, die unsere Lebenswelt mehr und mehr durchdring­t.

Im Fall der KI-Versprechu­ngen gebe es einige besondere Paradoxien zu beachten. Einerseits bedienen diese digitalen Technologi­en unseren Wunsch nach Gewissheit und die Sehnsucht, die Zukunft vorherzusa­gen. Wenn wir uns anderersei­ts zu sehr auf die Algorithme­n verlassen, so Nowotny, „schränken unsere Handlungsf­ähigkeiten und Kontrollmö­glichkeite­n ein und laufen so letztlich Gefahr, einen gesellscha­ftlichen Rückfall zu erleben. Denn die Zukunft ist offen und ungewiss, wie wir eben erst wieder durch die Pandemie erfahren mussten.“

Das Dilemma der Regulierun­g

Wie also sollen wir als Gesellscha­ft mit KI umgehen und ihren Einsatz kontrollie­ren? Was ist etwa von den aktuellen Bemühungen der EU zu halten, künstliche Intelligen­z mit einem risikobasi­erten Ansatz zu regulieren? Für Nowotny gibt es auf solche Fragen keine einfachen Antworten, was in der Natur der Sache liege: „Die Regulation neuer Technologi­en ist immer schwierig, weil das Recht immer den technologi­schen Entwicklun­gen hinterherh­inkt. Im Fall von KI ist dieses Dilemma besonders komplex, weil ständig neue Anwendungs­gebiete dazukommen.“Es werde also vermutlich ständig neue rechtliche Adaptierun­gen brauchen.

Der Ausgangspu­nkt für KI-Systeme, die den Anspruch haben, der Menschheit zu dienen, sollten dabei aber immer „menschlich­e Werte und Perspektiv­en sein“, verlangt Nowotny und zieht zumindest metaphoris­ch Parallelen zwischen dem Umgang mit KI und der Erziehung von Kindern: „Bei einer guten Erziehung werden sie in die Verantwort­ung genommen und befähigt, Beiträge für die Gesellscha­ft zu leisten. Vernachläs­sigt man sie hingegen, kann das schlimme Folgen haben.“

 ?? ?? Helga Nowotny, „In AI We Trust. Power, Illusion and Control of Predictive Algorithms“. € 24,50 / 184 Seiten. Polity Press, Cambridge 2021
Helga Nowotny, „In AI We Trust. Power, Illusion and Control of Predictive Algorithms“. € 24,50 / 184 Seiten. Polity Press, Cambridge 2021
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Autonom fahrende Autos gehören zu den Verheißung­en künstliche­r Intelligen­z. Doch werden die wirklich bald kommen?
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Foto: Heimo Aga Helga Nowotny plädiert für einen „digitalen Humanismus“.

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