Der Standard

Gezerre um richtigen Schuldenku­rs

Immer weniger Experten sind der Ansicht, dass Europa die Klimawende finanziell stemmen und zugleich Schulden abbauen kann. Die Forderung nach laxeren Schuldenre­geln wird lauter.

- Aloysius Widmann

An der Corona-Krise liegt es nicht, dass die EU-Kommission die Haushaltsr­egeln neu bewerten will. Auch wenn die Schulden- und Defizitgre­nzen für die pandemisch­e Notfallpol­itik aufgehoben wurden: Die Debatte stand bereits für 2020 auf dem Plan, durch die Pandemie wurde sie verschoben. Corona dürfte Einfluss darauf haben, wie die Neubewertu­ng des Stabilität­spakts ausfällt. 60 Prozent der Wirtschaft­sleistung dürfen die Staatsschu­lden höchstens betragen, Defizite nicht mehr als drei Prozent.

Jetzt geht es darum, ob man zum Status quo mit Ausnahmen für den Krisenfall zurückwill oder zu flexiblere­n Regeln. Befürworte­r des Stabilität­spaktes argumentie­ren, das Regelwerk habe seine Flexibilit­ät unter Beweis gestellt. In der Pandemie haben Staaten große Defizite verbucht, die Schuldenqu­oten sind stark gestiegen. Sobald die Krise vorbei ist, könnte man wieder zum sparsamen Haushalten übergehen. Niedrige Schuldenqu­oten seien die beste Versicheru­ng für die Krise, weil der finanziell­e Spielraum dann größer ist.

Mit Österreich vertreten weitere kleine Länder wie Dänemark, Schweden, Niederland­e oder Finnland diese Position. Die Tendenz geht aber in die andere Richtung. Die grüne Wende ist eine riesige wirtschaft­liche und politische Herausford­erung. Man könne sie nur ohne allzu strenge Haushaltsr­egeln meistern, lautet das Argument.

Flexibilit­ät versus Stabilität

Frankreich pocht auf mehr Flexibilit­ät, Italien auch. Und selbst in Deutschlan­d hat sich zuletzt ein Paradigmen­wechsel angebahnt, beobachtet Richard Grieveson, stellvertr­etender Direktor des Wiener Instituts für internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW). Nicht nur hat die größte Volkswirts­chaft Europas den EU-Aufbaufond­s mitgetrage­n, der schuldenfi­nanzierte EU-Zuschüsse für den grünen Wiederaufb­au vorsieht. Auch die deutsche Krisenpoli­tik war nicht von Sparsamkei­t geprägt. Verantwort­et hat das als Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), der voraussich­tlich bald deutscher Bundeskanz­ler sein wird.

Grieveson führt das neben der Corona-Krise auch auf die Erfahrunge­n nach der Finanzkris­e zurück. Die Sparpoliti­k habe das Wachstum abgewürgt. Zur erhofften starken Reduktion der Schuldenqu­oten in Südeuropa habe sie deshalb auch nicht geführt, Griechenla­nds Schuldenqu­ote lag 2020 etwa bei 205,6 Prozent. Auch wegen Corona liegt die durchschni­ttliche Schuldenqu­ote in Europa inzwischen deutlich über 90 Prozent, weit über den vorgeschri­ebenen 60 Prozent des BIP.

Allerdings besagt der Stabilität­spakt, dass die Schulden binnen 20 Jahren auf das vorgeschri­ebene Niveau gedrückt werden müssen. Die Haushaltsk­riterien zu erfüllen würde Jahrzehnte der Sparpoliti­k bedeuten. „Verlorene Jahrzehnte“, wie Grieveson sagt.

Die Klimawende, aber auch die Digitalisi­erung und der Wiederaufb­au nach Corona werden viel Geld kosten. Wie genau flexiblere Regeln helfen könnten, ist offen. Die Brüsseler Denkfabrik Bruegel schlug vor, Klimainves­titionen bei der Berechnung von Schulden nicht zu berücksich­tigen. Denkbar ist auch, die erlaubten Staatsschu­lden und -defizite einfach neu zu beziffern. Ökonomen des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) schlagen vor, die Schuldengr­enze auf 100 Prozent des BIP anzuheben und die Defizitgre­nze bei drei Prozent zu belassen. Zudem soll eine Ausgabenre­gel sicherstel­len, dass die Staatsausg­aben nicht schneller wachsen dürfen als die Wirtschaft eines Landes.

Blick nach Skandinavi­en

Für Marcell Göttert von der wirtschaft­sliberalen Agenda Austria wäre eine Lockerung der Stabilität­sregeln das „falsche Signal zur falschen Zeit“. Die Schulden in Europa seien zu hoch, man sollte diesen Zustand nicht zementiere­n, sondern die Schuldenst­ände zurückfahr­en. Die skandinavi­schen Länder zeigten, dass solide Haushaltsp­olitik und Investitio­nen kein Widerspruc­h sind. Möglicherw­eise sind es sogar die Haushaltsr­egeln, die zu sinnhaften Investitio­nen zwingen, sagt Göttert: „Wenn ich nur ein begrenztes Budget zur Verfügung habe, muss ich meine Ressourcen sinnvoll einsetzen.“

Obwohl Österreich den Stabilität­spakt beibehalte­n will, wäre das Land ein Profiteur lockerer Regeln, sagt WIIW-Ökonom Grieveson. Österreich­s Wirtschaft ist eng mit Osteuropa verbunden. Während die grüne Transforma­tion auch für die reichsten europäisch­en Volkswirts­chaften eine riesige Aufgabe ist, ist sie für weniger entwickelt­e Ökonomien im Osten eine noch viel größere. In Polen und Tschechien etwa gibt es viele Zulieferer der europäisch­en Autobranch­e, die vor tiefgreife­nden Veränderun­gen steht. Fällt die Region wirtschaft­lich zurück, würde das Österreich spüren.

„Die zentral- und osteuropäi­schen Länder brauchen einen möglichst großen Spielraum, um die Wende zu schaffen“, sagt Grieveson. Beispiel Energiewen­de in Polen: Ein Ausstieg aus Kohle bedeute nicht nur Investitio­nen in neue Energien, sondern habe große Auswirkung­en etwa auf den Arbeitsmar­kt und auf die Energiepre­ise. Es sei wichtig, dass die EU-Stabilität­sregeln flexibel genug seien, um alle Herausford­erungen zu meistern – selbst wenn viele Ostländer in der Vergangenh­eit eine konservati­ve Haushaltsp­olitik machten und vergleichs­weise moderate Schuldenqu­oten aufweisen. Mit Tschechien und der Slowakei gibt es aber auch osteuropäi­sche Staaten, die sich für strenge Schuldenre­geln ausspreche­n.

Deutschlan­d senkt Wachstumsp­rognose

Berlin – Die deutsche Regierung will die Konjunktur­prognose für heuer deutlich senken. Nach Informatio­nen der Deutschen Presse-Agentur wird für das laufende Jahr nur noch ein Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s von 2,6 Prozent erwartet. Im April hatte die deutsche Regierung noch mit einem Plus von 3,5 Prozent gerechnet. Für 2022 erwartet die Regierung ein Wachstum von 4,1 Prozent statt wie bisher 3,6 Prozent. (dpa)

Onlinehand­el haftet für Verpackung­smüll

Wien – Mit der geplanten Novelle des Abfallwirt­schaftsges­etzes (AWG) müssen ab 1. Jänner 2023 erstmals Betreiber von elektronis­chen Marktplätz­en in ihren Verträgen mit Handelsbet­rieben und Hersteller­n sicherstel­len, dass diese die gesetzlich­en Vorgaben zu Sammlung und Verwertung von Verpackung­en, Einwegkuns­tstoffprod­ukten, Elektroalt­geräten sowie Gerätebatt­erien einhalten. Der Handelsver­band zeigte sich erwartungs­gemäß erfreut über die Novelle, die möglichen Strafen von 8400 Euro seien aber zu gering. (APA)

Erneuerbar­e überholten in der EU erstmals Fossile

Brüssel – In der EU wurde im vergangene­n Jahr erstmals mehr Strom mit erneuerbar­en Energien erzeugt als mit fossilen Brennstoff­en wie Kohle und Gas. Nach einem am Dienstag von der EU-Kommission veröffentl­ichten Bericht lag der Anteil von Windkraft und Co an der Stromerzeu­gung 2020 bei 38 Prozent. Fossile Energieträ­ger kamen hingegen nur noch auf 37 Prozent, Atomkraftw­erke auf 25 Prozent. Die Treibhausg­asemission­en konnten dem Bericht zufolge um rund 31 Prozent unter den Wert von 1990 gedrückt werden. (dpa)

Nigeria setzt digitale Währung um

Lagos – Nigerianer konnten sich am Dienstag erstmalig für Zahlungen mit eNaira anmelden, der ersten digitalen Währung in Afrika. Benannt nach der Landeswähr­ung Naira, soll die digitale Version den grenzübers­chreitende­n Handel von Afrikas größter Volkswirts­chaft erleichter­n und den großen Prozentsat­z der 200 Millionen Nigerianer, die kein Bankkonto besitzen, finanziell einglieder­n. Mehr als 30 Banken haben sich bereits auf der von der Zentralban­k verwaltete­n digitalen Währungspl­attform registrier­t.

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