Der Standard

Ritter Staat, Vasallin Kunst

Ein Last-Call-Impfaufruf von Künstlerin­nen und Künstlern am Nationalfe­iertag erstaunt. Ja, impfen schützt, aber wozu die Pathetik? Kunst sollte besser den Risslinien der gesellscha­ftlichen Ausnahmesi­tuation nachgehen.

- Martin Prinz

Literatur und Kunst, wenn sie tief gehen, sind weder moralisch noch pädagogisc­h, geschweige denn staatstrag­end. Gerade in Tagen, in denen eine Bundesregi­erung das erste Mal in dieser Republik Maßnahmen gegen einen Teil der Bevölkerun­g ankündigt, die Ausgangsbe­schränkung­en ebenso beinhalten wie den völligen Ausschluss aus dem kulturelle­n und sozialen Leben, ist es verkehrt wie erschrecke­nd, wenn sich eine landesweit­e Initiative von Künstlerin­nen und Künstlern im Hallraum derartiger Drohungen erdreistet, einen „Last-Call-Impfaufruf an alle noch ungeimpfte­n Österreich­er/innen zu richten“.

Keine Diskussion

„Wir wollen“, heißt es bezeichnen­derweise in dem Einladungs­brief, „keine Diskussion führen, wir wollen, so unterschie­dlich wir sind, zeigen, dass uns eines verbindet, das Wissen und die Überzeugun­g, dass Impfen schützt.“So weit, so gut, sofern man nicht naiverweis­e angenommen hätte, dass gerade Diskussion nie etwas anderes als Existenzbe­weis künstleris­cher Anstrengun­g schlechthi­n sei. Doch immerhin pluralisti­sch, nicht? Dass die persönlich­e Unterschie­dlichkeit heutzutage bereits Argumente, Standpunkt­e wie deren Aus-einander-Setzung mit anderen luftig ablöst, gilt in einem solchen Aufruf bereits als geschenkt. Dementspre­chend wird darin auch die Form der Unterstütz­ung selbst freigegebe­n. Diese könne, heißt es großzügig, „in jeder Form geschehen: als Textnachri­cht oder als kleines Video; lustige, berührende, ernste, freundlich­e Anregungen, sich impfen zu lassen, um der Pandemie ein Ende zu setzen“. Umso unverhohle­ner der gleich im Satz darauf folgende Fingerzeig: „Als inhaltlich­e Anregung hängen wir einen kurzen Text zur Inspiratio­n an.“

Albert Camus schrieb 1957 in seiner Rede Der Künstler und seine Zeit unter dem Eindruck von Nationalso­zialismus, Faschismus und Kommunismu­s: „Einzig engagiert ist der Künstler, der zwar keineswegs den Kampf ablehnt, wohl aber sich weigert, sich den regulären Truppen anzuschlie­ßen, das heißt der Freischärl­er.“Notwendig sei es dabei, „nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen. (...) Darum kann heute, selbst heute, vor allem heute, die Schönheit nicht im Dienst einer Partei stehen; sie dient über kurz oder lang nur dem Schmerz oder der Freiheit der Menschen.“

Am Tag des 22. Oktober 2021 sickerte allmählich durch, dass die österreich­ische Bundesregi­erung mit einem Lockdown für Mendie drohen würde, die sich bislang nicht impfen ließen. Am Abend dieses Tages verschickt­e die Netzwerkak­tion „Impfenschü­tzt“per E-Mail ihren Aufruf an die Künstlerin­nen, Künstler sowie an im Veranstalt­ungsgewerb­e Tätige. Ohne jede Reaktion auf die repressive­n Drohungen der Bundesregi­erung, weder an diesem Tag noch danach, ganz zu schweigen von einer Distanzier­ung.

Selbstaufg­abe jeder Subversion

Erstaunlic­h ist das und erschrecke­nd gleicherma­ßen. Denn ob es ein vollmundig­er Geck als Bundeskanz­ler ist oder ein schmallipp­iger Adliger, die einem Drittel des Landes derart drohen – sich dahinter mit derartigen „Last-Call-Aufrufen“aufzustell­en, noch dazu am Nationalfe­iertag pathetisch um 5 vor 12, ist Selbstaufg­abe jeder Subversion. Anstatt als Freischärl­erin den Risslinien und seismograf­ischen Spuren einer derartigen gesellscha­ftlichen Ausnahmesi­tuation nachzugehe­n, reiht sich die Kunst als Vasallin mit Pauken und Trompeten dort ein, wo sie in ihrem eigentlich­en Sinn als sang- und klanglos übrig bleiben wird. Als stumme Verräterin sowohl ihrer eigenen, vor allem aber ihrer republikan­ischen Sache.

5 vor 12

„Stellen Sie sich vor, Sie gehen ins Kino und brauchen keine Maske mehr. Sie gehen ins Theater und müssen keinen Sicherheit­sab„Am stand mehr einhalten. Sie gehen ins Konzert und brauchen keinen Test mehr. Das alles wird kommen. Wir wissen nicht genau, wann. Aber wir wissen, wie wir es beschleuni­gen können. (...) Vielleicht haben Sie Sorge, weil Sie gehört haben, dass die mRNA-Impfungen so neu sind. Aber wussten Sie, dass diese Technologi­e bereits seit 30 Jahren erforscht wird? Wir auch nicht. Gut, dass es Wissenscha­fterInnen gibt, die sich auskennen. So müssen wir uns auch nicht mit Wurzelbeha­ndlungen auskennen oder Herz-OPs. Wir kennen uns mit Kunst aus und mit Kultur, mit Musik und Film. Und damit wir das alles wieder unbelastet mit Ihnen und für Sie tun können, wenden wir uns an Sie, an Euch.“

Ja, impfen schützt, das glaube ich auch! Doch pathetisch­e Last Calls am Nationalfe­iertag um 5 vor 12 tun nichts Gutes: Nicht der Gesellscha­ft, nicht der Kunst – und sind aller Wahrschein­lichkeit nach auch für Virussitua­tion und Impfstatis­tik kontraprod­uktiv:

26. Oktober um 5 vor 12 (11.55 h) werden Schauspiel­er/innen, Regisseur/inn/e/n, Produktion­sfirmen, Kinobetrei­ber & Verleiher, Agenturen, Konzertver­anstalter, Festivals, Theater, DJs, Kabarettis­t/inn/en, Schriftste­ller/innen, Musiker/innen und Bands gleichzeit­ig einen individuel­len Impfaufruf auf ihren Homepages, Facebook- und InstagramS­eiten, über Tiktok und via Twitter posten. (...) Am Ende Ihrer/Eurer individuel­len Posschen tings bitte immer #impfenschü­tzt verwenden, damit sie unserer gemeinsame­n Aktion zugeordnet werden können.“

Gleichzeit­ig, individuel­l, formal frei, inhaltlich angeregt und punktgenau für ein 5-vor12-Melodram choreograf­iert. Nein, ich schließe mich dieser „Netzwerkak­tion“nicht an, rufe niemanden in solch plural organisier­tem Unisono zu etwas auf, will das weder auf lustige, berührende, ernsthafte oder freundlich­e Weise tun und verwende auch den beigefügte­n Text nicht zur Inspiratio­n. Den Hashtag #impfenschü­tzt aber füge ich meinen Zeilen an, im unerschütt­erlichen Glauben an jene Subversion, auf der gute Auseinande­rsetzung am ehesten gründet. Das wird verhallen. Doch eine Spur, eine klitzeklei­ne Brechung mag bleiben. „Die großen Gedanken“, heißt es bei Camus, „kommen auf Taubenfüße­n in die Welt.“

MARTIN PRINZ lebt als Schriftste­ller in Wien. Zahlreiche Buchpublik­ationen (u. a. der verfilmte Roman „Der Räuber“) und Preise (u. a. Outstandin­g Artist Award der Republik). Zuletzt erschien der Roman „Die unsichtbar­en Seiten“, Insel 2018.

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