Finale in der Billionenshow
US-Präsident Joe Biden hat vor seiner Abreise nach Europa überraschend einen neuen Budgetplan vorgelegt, mit dem der Stillstand im Kongress gebrochen werden soll. Für den Präsidenten geht es dabei fast schon um alles.
Wie oft waren die Countdowns verstrichen, ohne dass die Rakete zündet, auf die Joe Biden seine Hoffnung, seine gesamte Präsidentschaft setzt. Tage, Wochen, Monate hatten sich die Demokraten in einem kräftezehrenden innerparteilichen Streit verheddert. Es sind die letzten Stunden, bevor der amerikanische Präsident die Air Force One besteigen wird, um zum G20-Gipfel in Richtung Europa aufzubrechen. Plötzlich überschlagen sich am Donnerstag dann aber die Ereignisse.
Es ist noch früh am Morgen, als in Washington die Meldung die Runde macht, dass der US-Präsident seine Europa-Reise um ein paar Stunden nach hinten verschiebt. Joe Biden wolle überraschend im Kapitol die Eckpunkte eines Kompromisses bei seinen Reformplänen verkünden, die er in den vergangenen Tagen und Nächten mit den zerstrittenen Flügeln seiner Partei ausgehandelt hat. Danach werde er ins Weiße Haus zurückkehren, um dort der Öffentlichkeit einen möglichen Durchbruch zu verkünden.
Der Präsident hofft, dass seine Worte reichen werden, die Kritiker in den eigenen Reihen von dem Kompromiss zu überzeugen. Was für ein Licht hätte es auf die USA geworfen,
wäre der mächtigste Mann der Welt mit einer zerstrittenen Regierungspartei im Nacken unverrichteter Dinge nach Rom gereist? Wie hätte Biden drei Tage später beim Klimagipfel in Glasgow anderen Nationen strengere Umweltauflagen abverlangen wollen, wo es ihm selbst nicht gelungen war, seine Klimaschutzpläne zu Hause durchs Parlament zu bekommen?
Poker um Billionen
Auf dem Tisch liegen zwei Billionen Dollar schwere Reformpakete, die Joe Biden seinen Wählern versprochen hatte und an denen sich der Präsident messen lassen möchte. Reformen, die seine Präsidentschaft prägen sollen, so wie „Obama-Care“auch heute noch das amerikanische Gesundheitswesen bestimmt. Das Zeitfenster, Bidens Pläne zu verwirklichen, schließt sich mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Nächstes Jahr sind in den USA Midterm-Elections des Kongresses. Die Gefahr, dass die Demokraten dabei ihre Mehrheit verlieren, ist groß.
Beim ersten Paket handelt es sich um das Infrastrukturgesetz, der „American Jobs Plan“: Geld für die Sanierung von maroden Straßen, Brücken und Schienen, Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr,
den Breitbandausbau sowie den Ausbau der Ladeinfrastruktur für EAutos für mehr als eine Billion USDollar. Darauf hat man sich längst geeinigt. Im August passierte die Gesetzesvorlage den Senat mit Stimmen einiger Republikaner. Eine Formsache, gäbe es nicht den Streit um das zweite Reformpaket.
Dabei handelt es sich um die „Build Back Better“-Agenda des Präsidenten, etwa mit Klimaschutz und Sozialleistungen. Ursprünglich sah der Plan Zuschüsse für Krankenversicherung, Medikamente, Zahnversorgung aber für die Kinderbetreuung vor. So sollten Mütter und Väter zum ersten Mal in den USA An
spruch auf Elterngeld haben. 3,5 Billionen Dollar groß war das Vorhaben. Doch auch das war dem konservativen Flügel der Demokraten noch deutlich zu viel. Der Kompromiss, den es nun gibt, hat knapp zwei Billionen Dollar Volumen.
50 Präsidenten
Das Problem: Anders als beim Infrastrukturgesetz können die Demokraten beim Sozialgesetz auf keine Stimme von den Republikanern rechnen. Und da es im Senat 50:50 steht und nur die Stimme von Vizepräsidentin Kamals Harris das Resultat zugunsten der Demokraten verschiebt, darf es keine Abweichler
geben. Dramatisch gesagt ist so „jeder Senator Präsident“.
Völlig nachgeben konnte Biden aber auch nicht. Einige weit links stehende Abgeordnete im Repräsentantenhaus hatten damit gedroht, nachträglich auch das erste, bereits vereinbarte Gesetzespaket, zu Fall zu bringen, sollte man Forderungen beim Sozialpaket nicht nachkommen – das wäre ein Super-GAU.
Auf dem Spiel standen auch viele Karrieren: Nancy Pelosis etwa. Die demokratische Sprecherin im US-Repräsentantenhaus galt bisher als eine Person, die immer Ergebnisse liefert. Dann wären da Senator Joe Manchin aus West-Virginia und Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona – jene konservativen Demokraten, die sich gegen Sozialprogramme sträubten und unter Druck stehen – und Biden, dessen Popularität in letzten Umfragen auf 37 Prozent eingebrochen ist. Für ihn geht es womöglich nun um alles.
Vielleicht hilft ein Stoßgebet an der Seite von Papst Franziskus, bei dem Joe Biden am Freitag eine Audienz haben wird, wenn er doch noch in Europa angekommen ist. Gleich danach steht der Gipfel der G20 in Rom auf dem Programm, bevor es zum COP-26-Gipfel nach Glasgow gehen wird.