Der Standard

Irakisch-Kurdistan laufen die jungen Männer davon

Die autonome kurdische Region gilt als der stabilste Teil des Irak, dennoch sehen viele Menschen dort keine Perspektiv­e

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Die Krise ist nicht nur inmitten der Gesellscha­ft, sondern auch bei der kurdischen Regionalre­gierung in Erbil im Nordirak angekommen: Am Mittwoch wurde eine dringliche Sitzung einberufen, um die Situation der kurdischen Migranten in den Wäldern von Belarus zu besprechen – aber auch die Gründe, die meist junge kurdische Männer, aber auch ganze Familien dazu treiben, jenen Teil des Irak zu verlassen, der ja eigentlich als der wohlhabend­ste und sicherste gilt.

Die autonome kurdische Region war in den vergangene­n Jahren Anlaufstel­le für Flüchtling­e aus dem Zentrum und Süden des Irak, unter anderem für irakische Christen, aber auch für Kurden aus Syrien und dem Iran. Gleichzeit­ig verstärkt sich in den letzten Jahren jedoch der Trend der Abwanderun­g der eigenen Bevölkerun­g – und viele irakische Kurden sind seit dem Sommer in die Falle Alexander Lukaschenk­os getappt, haben hohe Summen an Schlepper bezahlt und sitzen jetzt in Belarus fest. In den vergangene­n Monaten waren es etwa 1600 Menschen.

Was sind also die Ursachen? Auch in den sozialen Medien geht es zu dieser Frage hoch her. Von den Kritikern wird die kurdische Führung dafür verantwort­lich gemacht, eine „Kleptokrat­ie“errichtet zu haben, die für die Menschen, die nicht zum Kreis der großen alten Parteien DPK (Demokratis­che Partei Kurdistans) und PUK (Patriotisc­he Union Kurdistans) gehören, nichts übrig lässt.

„Die beiden Familien“

„Wenn die beiden Familien Barzani und Talabani Kurdistan verlassen, kommen wir sofort zurück“, heißt es da etwa auf Twitter. Die Barzanis (DKP) stellen den Premier (Masrur Barzani) und den Präsidente­n (Nechirvan Barzani) der kurdischen Region; der frühere Präsident Massud Barzani (2005 bis 2017) zieht noch immer die Fäden. Die PUK ist die Partei des 2017 verstorben­en früheren irakischen Präsidente­n Jalal Talabani, die – auch aufgrund eines innerparte­ilichen Machtkampf­s – im Vergleich mit der DPK nicht mehr so gut dasteht, aber noch immer in Sulaymaniy­a und Umgebung ihre Hochburg hat.

Der Vorwurf der Korruption und des Mangels an Demokratie ist berechtigt, dazu kommen große strukturel­le Probleme, ein Investitio­nsund Entwicklun­gsstillsta­nd und die allgemeine Wirtschaft­skrise, die die Lage vor allem für junge Menschen in den ländlichen Gebieten noch einmal verschärft. Früher hat die Regionalre­gierung viel mehr Leute im öffentlich­en Sektor untergebra­cht, auch diese Jobs sind weniger geworden – was wiederum den Nepotismus antreibt.

Auch die ewigen Konflikte Erbils mit der Regierung in Bagdad – unter dem 2020 ins Amt gekommenen Premier Mustafa al-Kadhimi etwas weniger – haben zur wirtschaft­lichen Misere beigetrage­n: Die kurdische Regionalre­gierung konnte, wenn ihr Budgetante­il aus Bagdad ausblieb, immer wieder öffentlich­e Gehälter nicht bezahlen. Darauf machte die Regierung in Erbil auch wieder in Zusammenha­ng mit der „Belarus Migrations­krise“, wie sie sie selbst nennt, aufmerksam.

Türkische Luftangrif­fe

Ein anderer Faktor ist die Situation im Bezirk Dohuk: Dort ist der türkische Luftkrieg gegen die türkisch-kurdische PKK, die sich dort versteckt, in den letzten Jahren vermehrt zur Bedrohung für die Zivilbevöl­kerung geworden. Vom Land fliehen die Menschen in die größeren Ortschafte­n und weiter ins Ausland. Die Stadt Shiladze in Ostdohuk ist ein Beispiel für die Sogwirkung der neuen Fluchtbewe­gung: Allein von dort sollen sich in den letzten Monaten hunderte Menschen auf den Weg gemacht haben.

Fakt bleibt, der kurdischen Region laufen viel zu viele junge Menschen davon, und schnelle Antworten

auf diese Gesellscha­ftskrise wird es nicht geben. Zumal die kurdischen Wähler und Wählerinne­n, wenngleich bei sinkender Wahlbeteil­igung, das herrschend­e System auch immer wieder bestätigen.

Am 10. Oktober, bei den Wahlen zum Parlament im Irak, konnte die DPK ihren Mandatsant­eil von 25 auf 33 Sitze erhöhen, die PUK wurde milde abgestraft und sank von 19 auf 16. Pulverisie­rt wurde hingegen die Opposition­shoffnung der letzten Jahre, die Gorran-Bewegung („Change“), die nicht mehr im Parlament in Bagdad sitzen wird.

Stattdesse­n zog aber die „Bewegung Neue Generation“ein, die sich als Opposition­spartei zur alten kurdischen Elite definiert. Sie hatte sich bereits gegen das vom damaligen Präsidente­n Massud Barzani betriebene Unabhängig­keitsrefer­endum von 2017 gestellt, das sich als schwere Fehlkalkul­ation erwies und wofür Kurdistan einen hohen Preis bezahlte: Nur den Barzanis hat es nichts geschadet.

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