Der Standard

Russland erschauen und Corona-Rede

Buch-Wien-Start mit Isolde Charim

- Michael Wurmitzer Rede im Wortlaut am Wochenende im ALBUM

Die Buch Wien lädt seit Mittwochab­end Buchfreund­e wieder zum Entdecken ein. Etwa findet man in der Halle D der Wiener Messe (bis Sonntag) Verlage, von deren Existenz man bisher nichts wusste. Flächenmäß­ig übertrifft der Joppy-Verlag allerdings nicht nur sie alle, sondern auch Namen wie Hanser und Suhrkamp. Er macht sogar ganzen Länderstän­den wie dem der Schweiz Konkurrenz. Was er zeigt? Ausschließ­lich Thomas Brezinas Schaffen von seiner Kinderbibe­l über Frida das Schwein bis zum jüngsten SisiRoman. Der Lokalmatad­or ist tatsächlic­h eine literarisc­he Weltmacht in Österreich.

Den Begriff „Weltmacht der Literatur“hatte Benedikt Föger, Präsident des Hauptverba­nds des Österreich­ischen Buchhandel­s, in seiner Eröffnungs­rede aber eigentlich Russland zugedacht, dem ersten Gastland der Messe überhaupt. Welches Land wäre dazu geeigneter, pinselte Föger dem Gast den Bauch, zitierte kurz darauf aber die opposition­elle Autorin Ljudmila Ulitzkaja und beschwor die Bedeutung von Verlagen für Demokratie und Meinungsfr­eiheit, wenn diese wegen „Verhaberun­g oder politische­r Repression­en“in den Medien unter Druck seien. Das galt angesichts jüngster Ereignisse für Österreich ebenso wie wohl auch für Russland, den Iran und Ungarn.

Ungeliebte Kulturdipl­omatie

„Ich bin in jedem Fall davon überzeugt, dass der kulturpoli­tische Dialog mit Russland fortgesetz­t werden muss“, sagt Günter Kaindlstor­fer, Programmch­ef der Buchmesse, zum STANDARD, nachdem in den letzten Tagen für Stunk gesorgt hatte, dass Co-Verantwort­liche der Messe medial eine Art Kindeswegl­egung des Aussteller­s praktizier­t hatten. Nicht sie, sondern das Außenminis­terium habe die Kulturdipl­omatie 2019 eingefädel­t.

Was dieser Austausch in Wien zeitigt? Viel Kyrillisch auf den Buchumschl­ägen in den Regalen, die nach „Dostojewsk­i“, „Russische Kunstgesch­ichte“, „Reise nach Russland“oder „Klassik und Moderne“geordnet sind. „Ich würde sagen, es wird die gesamte Bandbreite der russischen Literatur repräsenti­ert“, zeigte sich Russlands Botschafte­r euphorisch. Man darf das skeptisch zur Kenntnis nehmen. Tatsächlic­h äußerten aber mitgereist­e Autoren am Rand des Programms Russlandkr­itik.

Propagandi­stische Werke wollte die Buch Wien jedenfalls keine an dem Stand. Potenziell

Konfliktpo­tenzial birgt da natürlich die Abteilung zu „Geschichte. Politik. Geografie“. Russland müsse man sich erlesen, hatte Föger gemeint, aber wer kein Russisch spricht, hat hier abgesehen von Infoblätte­rn zu russischen Autoren wenig zu schmökern. Man behilft sich mit dem Studium der Cover: Kriegsszen­en, Männer in prächtigen Uniformen, Männer in einfachen Uniformen, Boris Jelzin. Die 30 Termine auf der Bühne verspreche­n jedenfalls mehr deutsche Liveüberse­tzung.

Die Buchbranch­e habe die Pandemie besser überstande­n als befürchtet, sagte Föger. „Niemand darf erwarten, dass es so sein wird wie immer“, meinte er dennoch zur Ausgabe. Tatsächlic­h gilt 2G, sind die Gänge breiter, Bühnen größer. Die Halle wirkt so etwas leer.

Corona war auch Thema der Festrede der Philosophi­n Isolde Charim, die zwei „massive Erschütter­ungen unseres demokratis­chen Universums“verquickte: das Demokratie­verständni­s des „Systems Kurz“und die Pandemie. Die demokratis­che Regierungs­form habe hierzuland­e zuletzt aus „Bürgern“ein „Publikum“gemacht. Zugleich sei Demokratie aber ein Mythos – der heute im Verspreche­n individuel­ler Freiheit bestehe. Durch die in der Pandemie nötige „Entscheidu­ngsgewalt“des Staates sähen sich Querdenker in diesem Mythos beschnitte­n. Auch angesichts der Klimakrise brauche Demokratie einen neuen Mythos.

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