Russland erschauen und Corona-Rede
Buch-Wien-Start mit Isolde Charim
Die Buch Wien lädt seit Mittwochabend Buchfreunde wieder zum Entdecken ein. Etwa findet man in der Halle D der Wiener Messe (bis Sonntag) Verlage, von deren Existenz man bisher nichts wusste. Flächenmäßig übertrifft der Joppy-Verlag allerdings nicht nur sie alle, sondern auch Namen wie Hanser und Suhrkamp. Er macht sogar ganzen Länderständen wie dem der Schweiz Konkurrenz. Was er zeigt? Ausschließlich Thomas Brezinas Schaffen von seiner Kinderbibel über Frida das Schwein bis zum jüngsten SisiRoman. Der Lokalmatador ist tatsächlich eine literarische Weltmacht in Österreich.
Den Begriff „Weltmacht der Literatur“hatte Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels, in seiner Eröffnungsrede aber eigentlich Russland zugedacht, dem ersten Gastland der Messe überhaupt. Welches Land wäre dazu geeigneter, pinselte Föger dem Gast den Bauch, zitierte kurz darauf aber die oppositionelle Autorin Ljudmila Ulitzkaja und beschwor die Bedeutung von Verlagen für Demokratie und Meinungsfreiheit, wenn diese wegen „Verhaberung oder politischer Repressionen“in den Medien unter Druck seien. Das galt angesichts jüngster Ereignisse für Österreich ebenso wie wohl auch für Russland, den Iran und Ungarn.
Ungeliebte Kulturdiplomatie
„Ich bin in jedem Fall davon überzeugt, dass der kulturpolitische Dialog mit Russland fortgesetzt werden muss“, sagt Günter Kaindlstorfer, Programmchef der Buchmesse, zum STANDARD, nachdem in den letzten Tagen für Stunk gesorgt hatte, dass Co-Verantwortliche der Messe medial eine Art Kindesweglegung des Ausstellers praktiziert hatten. Nicht sie, sondern das Außenministerium habe die Kulturdiplomatie 2019 eingefädelt.
Was dieser Austausch in Wien zeitigt? Viel Kyrillisch auf den Buchumschlägen in den Regalen, die nach „Dostojewski“, „Russische Kunstgeschichte“, „Reise nach Russland“oder „Klassik und Moderne“geordnet sind. „Ich würde sagen, es wird die gesamte Bandbreite der russischen Literatur repräsentiert“, zeigte sich Russlands Botschafter euphorisch. Man darf das skeptisch zur Kenntnis nehmen. Tatsächlich äußerten aber mitgereiste Autoren am Rand des Programms Russlandkritik.
Propagandistische Werke wollte die Buch Wien jedenfalls keine an dem Stand. Potenziell
Konfliktpotenzial birgt da natürlich die Abteilung zu „Geschichte. Politik. Geografie“. Russland müsse man sich erlesen, hatte Föger gemeint, aber wer kein Russisch spricht, hat hier abgesehen von Infoblättern zu russischen Autoren wenig zu schmökern. Man behilft sich mit dem Studium der Cover: Kriegsszenen, Männer in prächtigen Uniformen, Männer in einfachen Uniformen, Boris Jelzin. Die 30 Termine auf der Bühne versprechen jedenfalls mehr deutsche Liveübersetzung.
Die Buchbranche habe die Pandemie besser überstanden als befürchtet, sagte Föger. „Niemand darf erwarten, dass es so sein wird wie immer“, meinte er dennoch zur Ausgabe. Tatsächlich gilt 2G, sind die Gänge breiter, Bühnen größer. Die Halle wirkt so etwas leer.
Corona war auch Thema der Festrede der Philosophin Isolde Charim, die zwei „massive Erschütterungen unseres demokratischen Universums“verquickte: das Demokratieverständnis des „Systems Kurz“und die Pandemie. Die demokratische Regierungsform habe hierzulande zuletzt aus „Bürgern“ein „Publikum“gemacht. Zugleich sei Demokratie aber ein Mythos – der heute im Versprechen individueller Freiheit bestehe. Durch die in der Pandemie nötige „Entscheidungsgewalt“des Staates sähen sich Querdenker in diesem Mythos beschnitten. Auch angesichts der Klimakrise brauche Demokratie einen neuen Mythos.