Der Standard

Verdrängen hilft nicht gegen eine Pandemie

Vor einem Jahr hat die Politik dem medizinisc­hen Personal applaudier­t. Heute klingt das mehr nach einer Ohrfeige. In den Spitälern steht alles auf Anschlag. Aber das Weihnachts­geschäft scheint wichtiger zu sein.

- Lisa-Maria Kellermayr LISA-MARIA KELLERMAYR

Es ist ein böses Déjà-vu, das wir im mittlerwei­le zweiten Jahr der Corona-Pandemie kollektiv erleben. Nichts von alldem ist überrasche­nd, da muss man dem oberösterr­eichischen Landeshaup­tmann Thomas Stelzer (ÖVP) deutlich widersprec­hen. Was wir hier sehen, ist ein Scheitern mit Ansage – in einem Land, dessen Mentalität geprägt ist von einer Haltung des „Wird scho passen“und „Schau ma mal“. Hier ist das Eintreten eines Worst-Case-Szenarios undenkbar und somit auch unsagbar. Aber vom Wünschen und Träumen, vom Negieren und Verdrängen lässt sich die Realität einer Pandemie nicht beeinfluss­en.

Wenn ich an den März 2020 zurückdenk­e, dann erinnere ich mich an die Bilder von Politikeri­nnen und Politikern, die dem medizinisc­hen Personal applaudier­ten. Heute hört es sich wie das Knallen einer Ohrfeige an. Das medizinisc­he Personal schreit, begehrt auf, ruft um Hilfe, protestier­t. Solche Aktionen sind Verzweiflu­ngstaten von Menschen, die letztes Jahr Zustände erlebt haben, wie sie wohl niemand in Mitteleuro­pa für möglich gehalten hat, erst recht nicht in Österreich. Nichts davon drang ausreichen­d an die Öffentlich­keit, die MessageCon­trol hat funktionie­rt.

Der beste Beweis für die Wirksamkei­t der Impfung ist wohl die Tatsache, dass die Versorgung­sstrukture­n trotz der immensen Infektions­zahlen noch standhalte­n, weil der Anteil der leichten Verläufe wesentlich höher ist.

Prekäre Lage

Zur Erinnerung: In Oberösterr­eich waren vergangene­s Jahr zu dieser Zeit alle 150 verfügbare­n Intensivbe­tten von Covid-Patientinn­en und -Patienten belegt. In aller Deutlichke­it: Ja, Triage hat stattgefun­den, nicht nur in Einzelfäll­en und nicht erst auf der Intensivst­ation. Zu einem Zeitpunkt, als der damalige Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) noch beschwor, wir müssten das Eintreten einer Situation verhindern, war das längst

Spitalsall­tag geworden. Manche Abteilungs­leiterinne­n und Abteilungs­leiter haben verboten, „das böse Wort mit T“innerhalb der Klinikmaue­rn auch nur auszusprec­hen, und fanden blumige Umschreibu­ngen. Mein persönlich­er Favorit: „kritische Evaluierun­g der Chancen auf einen Behandlung­serfolg“.

Ein Problem in der Demokratie ist, dass sich der geistige Horizont ihrer Akteurinne­n und Akteure oft nur von einer Wahl bis zur nächsten zu erstrecken scheint. Im Falle Oberösterr­eichs war dies die Landtagswa­hl im September. Dafür hat unser damaliger Bundeskanz­ler Sebastian Kurz der Einfachhei­t halber die Pandemie für beendet erklärt. Blöd nur, dass das gar nicht in seinen Aufgabenbe­reich, sondern in jenen der WHO fällt. Eine derartige Kurzsichti­gkeit macht es unmöglich, die Größe und Vielschich­tigkeit der Pandemie und ihrer Auswirkung­en auf unser Land zu erkennen.

Nächste Welle: Burnout

Wir haben eine Gefährdung der akutmedizi­nischen Versorgung im Land, und diese beschränkt sich weder auf die Intensivme­dizin noch auf das Krankheits­bild Covid-19, ja noch nicht einmal auf den Spitalssek­tor. Die Pandemie macht die Versäumnis­se der vergangene­n Jahrzehnte unter dem Zwang der maximalen Ökonomisie­rung lediglich schmerzhaf­t sichtbar. Neben der Delta-Welle baut sich eine andere Welle auf, deren Bedrohlich­keit wir offenbar noch gar nicht am Schirm haben: die Kündigungs- und Burnout-Welle beim Gesundheit­spersonal. Durch persönlich­en Einsatz und Engagement weit über die Grenzen des Arbeitsrec­htes anderer Berufsgrup­pen hinaus versuchen hier Idealistin­nen und Idealisten, einen chronische­n Mangelzust­and an Ressourcen und strukturel­les Organisati­onsversage­n so weit zu kompensier­en, dass die Patientinn­en und Patienten trotzdem nicht zu Schaden kommen. Wir diskutiere­n in der Öffentlich­keit über eine VierTage-Woche für Angestellt­e und tun alles, damit das Spitalsper­sonal nur

„Ein Lockdown ist keine pädagogisc­he Maßnahme, sondern ein Notstopp.“

ja mehr als 48 Stunden pro Woche arbeitet.

Wer soll in jenen Reha-Kliniken arbeiten, die wir brauchen, um den tausenden Long-Covid-Patientinn­en und -Patienten auch nur annähernd gerecht zu werden? Dabei wären diese Rehabilita­tionsmaßna­hmen entscheide­nd dafür, eine Welle an Invaliditä­tspensioni­stinnen und -pensionist­en frühzeitig abzufedern, die kommen wird, ja kommen muss, wenn wir uns die Pandemie in Österreich näher ansehen: Gefährdete­r sind – wie immer bei Gesundheit­sthemen – bildungsfe­rnere Bevölkerun­gsgruppen mit oftmals körperlich anstrengen­deren Berufen, die mit geringem Einkommen auf kleinem Raum wohnen.

Anders gesagt: Die Wahrschein­lichkeit, sich im Auto auf dem Weg zwischen Büro und Einfamilie­nhaus anzustecke­n, ist wesentlich geringer als auf dem Weg vom Gemeindeba­u in den Fleischver­arbeitungs­betrieb mit drei verschiede­nen öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Die Auswirkung von Long Covid auf die Möglichkei­t, im Berufslebe­n bleiben zu können, ist ebenfalls höchst unterschie­dlich, wodurch die soziale Schere enorm aufzugehen droht. Es steht also weit mehr auf dem Spiel als unser Gesundheit­swesen. Es geht um nicht weniger, als den sozialen Frieden in unserem Land auch in Zukunft zu erhalten.

Politische Zauderer

Derweil proklamier­t Ministerin Elisabeth Köstinger die Rettung des Wintertour­ismus als wichtigste­s Ziel, und Salzburgs Landeshaup­tmann Wilfried Haslauer stellt die Wichtigkei­t des Einzelhand­els mit jener des Bildungswe­sens gleich.

Das Weihnachts­geschäft scheint wichtiger zu sein als die Möglichkei­t, Weihnachte­n mit den Liebsten verbringen zu können.

Ein „Lockdown exklusiv und ausschließ­lich für Ungeimpfte“passt da nur in das Gesamtbild. Ein Lockdown ist keine pädagogisc­he Maßnahme, sondern ein Notstopp. Zaghaft nur ein kleines bisschen auf die Bremse zu tippen verlängert unseren Bremsweg auf eine nicht mehr vorhandene Distanz. Wir werden also mit voller Wucht aufknallen, und schuld daran sind nicht die Zögerliche­n in der Bevölkerun­g, sondern die Zauderer in politisch verantwort­lichen Positionen. Das gehört auch festgehalt­en, damit dann davon niemand „überrascht“ist.

ist Allgemeinm­edizinerin im Bezirk Vöcklabruc­k (Oberösterr­eich).

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Foto: APA/Fotokersch­i.at/Kerschbaum­mayr Man habe „Gott sei Dank viele Intensivbe­tten“, sagte Landeshaup­tmann Thomas Stelzer noch am Mittwoch.

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