Der Standard

Guter böser Cop

Bart Somers hat die belgische Stadt Mechelen binnen zwei Jahrzehnte­n von einer No-go-Area zum Vorzeigepr­ojekt in Sachen Integratio­n und Extremismu­spräventio­n transformi­ert.

- PORTRÄT: Fabian Sommavilla

Es ist sinnlos, Bart Somers um kurze Antworten zu bitten. Er holt gerne weit aus, reißt seine Augen auf, um seinen Antworten noch mehr Nachdruck zu verleihen, und er muss stets auch noch die zweite Hälfte jener Doppelstra­tegie ansprechen, mit der er die 90.000Einwohn­er-Stadt Mechelen von der dreckigste­n und unsicherst­en Stadt Belgiens zum herausgepu­tzten Vorzeigemo­dell für Integratio­n und Extremismu­spräventio­n machte.

Wir treffen Somers in seinem Büro in Brüssel, um für die STANDARDTe­rrordoku 9 Minuten, ein Jahr danach mehr über seine Erfolgsrez­epte zu erfahren. Vor rund zwei Jahren wechselte der langjährig­e Mechelener Bürgermeis­ter als Integratio­nsminister für die Region Flandern in die Hauptstadt. Interimist­isch war er für die flämischen Liberaldem­okraten 2003 auch schon ein Jahr lang Ministerpr­äsident.

Kurz erklärt ist Somers Politik ein Zusammensp­iel aus polizeilic­her Überwachun­g und wirklich ernst gemeinter Integratio­n. Er ist guter und böser Cop in Personalun­ion und überzeugt: „Nur wenn du die beiden Strategien kombiniers­t, kannst du deine Stadt besser schützen.“Aber kurz geht bei Somers eben nichts, also die Langfassun­g.

Liberaler Ex-Kommunist

Bartolomeu­s „Bart“Somers ist 57 Jahre alt und gebürtiger Mechelener, genau so wie die 14 Generation­en vor ihm. Er aber sei der letzte seiner Familie, der in einem monokultur­ellen Mechelen aufwuchs, betont er. Zu viel hat sich zuletzt gewandelt, zu viele neue Bewohnerin­nen und Bewohner seien dazugekomm­en. Knapp 140 Nationalit­äten sind es mittlerwei­le. Jedes zweite Neugeboren­e hat mittlerwei­le Migrations­hintergrun­d. An diese neue Realität gelte es sich anzupassen, sagt Somers. Er habe sich als Vater an die Elternscha­ft angepasst, als Politiker an das Zeitalter der sozialen Medien, und nun passe er sich als Bürger und Bürgermeis­ter eben auch der superdiver­sen Gesellscha­ft an, die seine Stadt auszeichne­t.

Somers hat auch sich und seine politische Gesinnung angepasst. Doch seine frühen Jahre beeinfluss­en ihn noch immer. Als Jugendlich­er, erzählt er, da habe er mit dem Kommunismu­s geflirtet, die Polizei und den staatliche­n Sicherheit­sapparat abgelehnt, den liberalen Sichtweise­n seines Vaters zunächst nicht immer folgen können. Seine Clique habe Polizisten provoziert und deren zum Teil brutale Reaktionen dafür genutzt, die eigene Ablehnung gegen die Uniformier­ten erst recht zu vertiefen und andere Jugendlich­e für ihre Sache zu gewinnen.

Im Grunde habe man die heutige Terroriste­nstrategie fürs Rekrutiere­n benutzt: Anschläge im Namen einer Sache begehen. Und anschließe­nd den anderen sagen: „Schaut her, sie geben euch die Schuld, wieder seid ihr allein die Schuldigen.“

Somers hält nichts von diesem Blame-Game. Gefragt nach den wichtigste­n Rezepten zur Extremismu­spräventio­n, sagt er immer wieder, dass es ein neues „Uns“brauche, kein „Wir gegen die anderen“. „Ein Individuum ist für seine Taten verantwort­lich, nicht eine Gruppe“, sagt er. Diese individual­istische Sicht zieht sich durch seine Politik. „Das muss man sich von Fall zu Fall anschauen“, ist wohl der zweitliebs­te Satz des heutigen Liberalen.

Für erfolgreic­he Integratio­n braucht es alle, nicht nur die Neuankömml­inge, betont er.

Wer durch Mechelen spaziert, dem fällt es vielleicht nicht auf den ersten Blick auf, aber auf den zweiten. Man sieht und hört überall, dass man in einer multikultu­rellen Stadt unterwegs ist – anders als in Brüssel, wo Menschen, die die Brücke vom Stadtzentr­um ins vermeintli­che Problemvie­rtel Molenbeek oder umgekehrt nehmen, in eine neue Welt eintauchen. Mechelen dagegen wirkt konstant multikultu­rell.

Burkatrage­nde Frauen schieben ihre Kinder an biertrinke­nden Pensionist­en in der Innenstadt vorbei, und in den Randbezirk­en sind nicht weniger autochthon­e Belgier auf dem Spielplatz auszumache­n als im Zentrum. Die ganze Stadt ist bunt.

Segregatio­n bekämpfen

Somers selbst hat dafür gesorgt. Seit der studierte Jurist und Berufspoli­tiker 2001 überrasche­nd zum ersten liberalen Bürgermeis­ter Mechelens wurde, bat er viele Mittelschi­chtfamilie­n in stundenlan­gen Gesprächen darum, nicht aus den einkommens­schwachen Gegenden wegzuziehe­n. Er will durchmisch­te Schulklass­en, diverse Wohnbezirk­e und multikultu­relle Jugendklub­s. Er will explizit keine segregiert­en Sportklubs, in denen nur Migranten kicken. Somers ließ sich diese Bemühungen viel kosten. In den äußeren Bezirken könne man sich nur dann pudelwohl fühlen, wenn Menschen nicht das Gefühl haben, Bürgerinne­n zweiter Klasse zu sein.

Deshalb lehnt er vandalismu­ssichere Materialie­n auch in Problembez­irken ab. Basketball­plätze aus Eisen und Stahl kreieren ein Ghetto-Feeling, sagt Somers. „Lieber stell ich drei Kameras hin und einen Polizisten an die Ecke, und dafür haben die Materialie­n dieselbe Qualität.“Da ist er wieder, sein Mix aus Integratio­n und Überwachun­g, der ihm 2016 den Titel World Mayor, weltbester Bürgermeis­ter einheimste.

Neben der bestausges­tatteten Müllabfuhr spielt auch die Mechelener Polizei alle Stückerln. Es gibt „Überwachun­gsbäume“, vollgepack­t mit Kameras. 80 zusätzlich­e Polizisten wurden eingestell­t – viele mit Migrations­geschichte. In seinem Buch Zusammen leben beschreibt er, wie er kriminelle Banden so lange drangsalie­rte, bis sich die Mechelener wieder sicher fühlen konnten.

In einer unsicheren Stadt seien Politiker und Ausländer immer die ersten Sündenböck­e, und davon profitiere­n nur rechtsextr­eme Parteien, sagt Somers. Dem Vlaams Belang grub Somers seither das Wasser ab, schrumpfte­n die Rechtsextr­emen von 30 auf neun Prozent runter.

Die wenigen Kritiker werfen ihm abwechseln­d vor, zu integrativ oder zu restriktiv zu sein. Somers aber pfeift auf das Links-rechts-Spektrum und setzt in pragmatisc­her Bürgermeis­terart auf Wirksames.

Kinder beschützen

Während die Rechtsextr­emen Mitmensche­n mit Migrations­hintergrun­d loswerden wollen, will Somers sie mit Buddy-Projekten und Sprachkurs­en zu einem Teil Mechelens machen. Denn wenn sich jemand „als Bürger sieht und wie ein Teil einer Gesellscha­ft fühlt, dann wird er vielleicht wütend, aber er wird nicht die eigene Gesellscha­ft angreifen“, ist er überzeugt.

Auch deshalb ging der Fußballfan Somers am Tag nach den Brüsseler Terroransc­hlägen in die größte Moschee Mechelens und sprach davon, dass es sich leider auch um „unsere Terroriste­n“handle. Sie seien großteils hier in Belgien aufgewachs­en und hier radikalisi­ert worden.

Nicht ohne Stolz erzählt er deshalb gerne die Geschichte, als 2014 von Antwerpen ausgehend Jihadisten in einem Mechelener Jugendheim rekrutiere­n wollten. „Sie haben sie rausgeworf­en“, sagt Somers lächelnd – nicht die Polizei, sondern unsere Muslime.

„Wir haben unsere Kinder beschützt“, sagt er, im Wissen, dass die Extremiste­n eine Kleinstadt weiter, in Vilvoorde, erfolgreic­h waren. Allein schon deshalb gelte es heute noch mehr für Integratio­n zu tun als gestern, sagt er. Immer und überall.

Und ohne naiv zu sein, ohne auf die zweite Seite der Medaille zu vergessen natürlich. „Deshalb entschuldi­ge ich mich jetzt schon, wenn die Antworten etwas länger werden“, sagte Somers grinsend zu Beginn des Gesprächs.

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Das rund vierzigmin­ütige Interview mit Bart Somers gibt es auf derStandar­d.at/Video zu sehen.

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