Der Standard

Ein Schrei nach Hilfe

Die Zahl junger psychisch Kranker steigt seit Jahren, die Hilfsangeb­ote nicht. Die Pandemie hat das nicht besser gemacht – im Gegenteil. Viele Jugendlich­e können erst behandelt werden, wenn es fast schon zu spät ist. Report aus der Jugendpsyc­hiatrie.

- Vanessa Gaigg, Lisa Kogelnik, Antonia Rauth

Bei den Mahlzeiten kracht es am ehesten. „Wenn eine denkt, sie hätte mehr bekommen als die anderen“, erzählt Lea. Die 16-Jährige ist seit sechs Wochen Patientin auf der Essstörung­sstation der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie Hall in Tirol, und sie hat es schon oft erlebt: Beim Blick auf die Teller wird verglichen, getuschelt und gepetzt. Niemand will mehr essen, als unbedingt sein muss.

Heute gibt es Spaghetti mit Kräutersau­ce und Salat. Einige der Mädchen haben die Mahlzeit bereits hinter sich gebracht, sie sitzen vor der verglasten Küche und plaudern mit einem Pfleger. Durch die Fensterfro­nt überblickt man Hall und das Inntal. Das Bild könnte harmonisch wirken – doch Leas Mitpatient­innen sitzen dort nicht nur für einen Plausch. Dreißig Minuten müssen sie nach jeder Mahlzeit vom Pflegepers­onal überwacht werden, damit das Mittagesse­n nicht in der Kloschüsse­l landet. Dann, nach einer halben Stunde, hat der Körper den Großteil der Kalorien aufgenomme­n. Erbrechen würde sich nicht mehr lohnen.

Wer den Neubau auf dem Haller Klinikgelä­nde betritt, in dem die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie seit 2017 beheimatet ist, der fühlt sich eher wie in einem modernen Internat als in einem Spital. Es gibt ein Tanzstudio, einen Abenteuers­pielplatz für die Kleinen, einen Garten mit Slackline, und beinahe alle Kinder und Jugendlich­en haben ein Zimmer für sich allein. Ihre Türen haben sie mit Stickern und Zeichnunge­n dekoriert, „Happy Birthday“steht auf einem Plakat, ein Mädchen hat Engelsflüg­el an ihre Tür geklebt. Dennoch ist es ein Ort, den wohl niemand von ihnen kennenlern­en wollte. Trotzdem gehören sie noch zu den Glückliche­n.

Allein in Hall stehen derzeit rund 50 Jugendlich­e auf der Warteliste – bei gerade einmal 43 Behandlung­splätzen, berichtet Kathrin Sevecke, Abteilungs­leiterin der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie Hall und der Universitä­tsklinik in Innsbruck. Hinzu kommt ein merklicher Anstieg der Jugendlich­en in „akuten Krisen“. Gemeint sind Jugendlich­e, die etwa wegen Selbstmord­gedanken, Panikattac­ken, selbstverl­etzendem Verhalten oder Fremdaggre­ssion sofort aufgenomme­n werden müssen. Seit der Corona-Krise ist die Zahl dieser Fälle merklich gestiegen: Im Jahr 2021 waren es um 40 Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Vor allem Essstörung­en nehmen zu. In der Praxis bedeutet das volle Stationen und monatelang­e Wartezeite­n.

Angst vor Gefährdung

Seveckes Kollege Paul Plener vom Allgemeine­n Krankenhau­s in Wien zeichnet ein ähnliches Bild: Mehr Jugendlich­e in psychische­n Ausnahmezu­ständen kommen auf zu wenige stationäre Plätze. Es war vor einigen Tagen, als es wieder einmal so weit war: Ein Bursche hatte Drogen genommen, durcheinan­dergemisch­t, und war stark intoxikier­t. Er war verzweifel­t, es gab die Angst, dass der Jugendlich­e sich selbst gefährden könnte. „Undenkbar“, den jungen Mann in diesem Zustand nach Hause zu schicken, sagt Plener. Nur: Weder auf der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Allgemeine­n Krankenhau­ses noch anderswo in der gesamten Bundeshaup­tstadt war auch nur ein einziges Bett frei. Also „hantierten wir mit Überstände­n“, wie es Klinikleit­er Plener in Ärztesprec­h ausdrückt.

In Wien gibt es laut Auskunft vom Büro von Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker (SPÖ) 97 Betten in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und weitere 29 in eigenen Abteilunge­n für 16bis 25-Jährige – theoretisc­h. Denn 39 Betten können aufgrund des Personalma­ngels nicht in Betrieb genommen werden. Die Situation war schon vor Corona desaströs. Jetzt ist sie es umso mehr. Trotzdem halten die Psychiater daran fest, dass man niemanden wegschickt, der sich akut selbst oder andere gefährden würde. Das unterstrei­cht auch Kathrin Sevecke – vor allem, was Plätze im sogenannte­n Unterbring­ungsbereic­h, also dem Ort, der im Volks

Fortsetzun­g von Seite 25 mund „die Geschlosse­ne“genannt wird, betrifft. Dort werden Jugendlich­e meist für einige Tage, mitunter auch gegen ihren Willen, untergebra­cht. Es geht um eine erste Stabilisie­rung, wenn sich das Umfeld der Patientinn­en und Patienten nicht mehr zu helfen weiß. Doch damit ist die Arbeit kaum getan.

Wieder nach Hause geschickt werden Hilfesuche­nde dann, wenn sie nicht akut gefährdet sind oder andere gefährden könnten: Sie kommen auf eine Warteliste und bleiben dort oft lange. Diese Art der Triage, wie sie in dem Bereich seit Jahren praktizier­t werden muss, hat drastische Konsequenz­en. Während der Wartezeit eskaliere die Situation bei manchen Betroffene­n zum Teil so, dass sie dann akut aufgenomme­n werden müssten, berichtet Plener. Suizid habe es zum Glück noch keinen gegeben, nachdem man jemanden hatte heimschick­en müssen. Zumindest keinen, von dem Plener berichtet worden wäre – wovon der Arzt ausgeht.

Doch auch anders kann diese Wartezeit lebensbedr­ohlich werden. Das zeigt der Fall von Lea. Im Mai 2021 kam sie auf die Warteliste. Bis zum 7. September dauerte es, bis sie ihren Platz antreten durfte. Sieben Kilo habe sie in dieser Zeit noch zusätzlich abgenommen, obwohl sie zuvor bereits gefährlich untergewic­htig gewesen sei. Ende des Sommers war ihr Köper immens geschwächt. „Meine Blutwerte waren sehr schlecht, und mein Herz musste beobachtet werden“, erzählt sie.

Geschichte­n wie jene von Lea gibt es zuhauf. In der Corona-Pandemie sind besonders viele Jugendlich­e in Essstörung­en geschlitte­rt. „Ich darf bloß nicht dick werden, jetzt, wo ich nur mehr zu Hause herumsitze“, hätten sich viele gedacht, sagt Paul Plener. Die viele freie Zeit, die ohne Treffen mit Freundinne­n und Hobbys blieb, hat auch Lea mit Sport und Essensplan­ung gefüllt. „Manchmal habe ich so viel trainiert, dass ich abends nicht mehr stehen konnte“, erzählt sie. Der Fokus auf das Abnehmen habe ihr in der unsicheren Zeit Halt gegeben, „einen Sinn“, wie sie sagt.

„Meine Blutwerte waren sehr schlecht, und mein Herz musste beobachtet werden.“

Drastische Spuren

Dass die Corona-Krise drastische Spuren in der psychische­n Verfassung vieler Jugendlich­er hinterlass­en hat, hat man auch im Gesundheit­sministeri­um erkannt. Minister Wolfgang Mückstein (Grüne) kündigte vor einigen Wochen an, zumindest bis Ende 2022 13 Millionen Euro mehr für die Bewältigun­g psychische­r Probleme von Kindern bereitstel­len zu wollen.

Kathrin Sevecke begrüßt die Ankündigun­g. Sie habe als Präsidenti­n der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie gleich nach dem Bekanntwer­den dem Gesundheit­sminister einen Brief geschriebe­n, wie das Geld sinnvoll eingesetzt werden könnte. Antwort habe sie keine erhalten. Er freue sich über „alles“, was in den Bereich investiert werde, sagt auch Kollege Plener. Auf die Frage, wie viel Geld zusätzlich zu den 13 Millionen eigentlich notwendig wäre, zögert der Klinikleit­er kurz. Und sagt dann: „Salopp gesagt, eine Null hintendran wäre gut.“

Für die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrien wird die Null im Fall dieser Aufstockun­g allerdings an vorderster Stelle stehen. Das Gesundheit­sministeri­um teilt mit: „Die Förderung von stationäre­n Leistungen ist nicht Gegenstand dieses Projektes.“Ziel sei, durch die CoronaKris­e besonders belasteten Kindern niederschw­elligen Zugang zu psychosozi­aler Behandlung zu ermögliche­n. Da hier Psychologi­nnen und Psychother­apeuten zum Einsatz kommen sollen, werden die jeweiligen Berufsverb­ände eine „wesentlich­e Rolle“bei der Verteilung der Gelder spielen, heißt es. Fließen soll das Geld ab Anfang 2022.

Wenn der Hut schon brennt, dann bleibt aber nur die Klinik als Anlaufstel­le. Für viele ist das dann der Fall, wenn sie ihre Probleme

Lea (16), nachdem sie fünf Monate auf einen Behandlung­splatz warten musste

zu Hause nicht lösen können. Manchmal liegen die Ursachen für die Krisen auch genau dort. So etwa bei Melanie (Name geändert). Oft wollte sie von zu Hause flüchten. Nach einem Klinikaufe­nthalt auf der Jugendpsyc­hiatrie in Innsbruck aufgrund einer depressive­n Verstimmun­g wurde sie im März 2020 in die Corona-Pandemie und den ersten Lockdown entlassen.

Vor allem der Fernunterr­icht hat Melanie zu schaffen gemacht. „Ich gehe sehr gern in die Schule. Mich motiviert das, wenn ich Leute um mich herumhabe, die das Gleiche tun“, sagt sie. Zu Hause habe es Streit gegeben: „Obwohl ich wegwollte, war ich immer daheim.“Sie hätte das Schuljahr wohl geschafft, wenn sie einige Tests absolviert hätte. Dennoch hat sie sich für eine Lehre entschiede­n. „Auch weil ich hoffte, dadurch mehr rauszukomm­en.“Die Berufsschu­le war einfacher als die Oberstufe, aber Melanie hatte wieder Unterricht von zu Hause aus. „Ich habe gemerkt, wie es mir immer schlechter und schlechter gegangen ist, und entschiede­n, einen Schlussstr­ich zu ziehen und auf mich selbst zu achten“, erklärt sie, warum sie sich im Juli 2021 wieder ins Krankenhau­s hat einweisen lassen.

Kathrin Sevecke betont, dass sie mit mehr Budget für die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrien „nicht noch ein Stockwerk obendrauf setzen“wolle. Stattdesse­n würde sie gern andere Behandlung­smethoden etablieren, wie etwa das Home-Treatment. Ein Angebot, das es seit kurzem etwa in Wien gibt. Dabei kommt das Behandlung­steam zu den Patientinn­en und Patienten nach Hause. Der Vorteil sei, dass die Jugendlich­en so leichter in den Alltag zurückfänd­en.

Doch manchmal ist gerade ein anderes Umfeld genau das, was Betroffene brauchen, damit sie wieder Fuß fassen können. „Wenn ich nicht daheim bin, geht es mir zehnmal besser“, sagt etwa Melanie. Auch Lea geht es so: „Bei Psychiatri­e denken die Leute, dass man verrückt ist, hier in der Zwangsjack­e sitzt. Aber eigentlich müsste das jeder selbst einmal gesehen haben. Psychiatri­e ist auch etwas Schönes. Es ist eine Gemeinscha­ft.“

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Immer mehr Kinder leiden seit Beginn der Pandemie unter Depression­en, Essstörung­en und Sozialphob­ien. Doch auf eine Behandlung warten sie mitunter lang (Symbolbild).
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Betritt man die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrien in Wien und Hall, wird einem nicht zuletzt durch die Einrichtun­g bewusst, wie jung die Patientinn­en und Patienten zum Teil sind.

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