Nie wieder?
Unser Kontinent wird immer noch mehr zur Festung. Besonders radikale Auswüchse bringt die ausländerfeindliche Haltung Europas derzeit in Polen hervor. Der Osteuropa-Experte Martin Pollack über die zynische und sadistische Radikalisierung der polnischen Po
Wir bekommen täglich vor Augen geführt, wie Flüchtende in Europa misshandelt werden.
Im Juli 1938 treffen sich die Vertreter von 32 Staaten, darunter Argentinien, die USA, Australien, Frankreich und Großbritannien, im mondänen französischen Badeort Évian am Genfer See, um zu beraten, wie man den von den Nationalsozialisten verfolgten Juden in Deutschland und dem annektierten Österreich helfen könnte. Die Verhandlungen der Politiker enden mit vagen Absichtserklärungen – nicht viel mehr als ein hilfloses Schulterzucken. Kein Land will die bedrohten Juden aufnehmen, die Grenzen werden dichtgemacht.
Eine moralische Bankrotterklärung der westlichen Demokratien, die damit in der Folge die Juden dem Holocaust ausliefern werden. Die Nazis triumphieren, sie werden später ihre mörderischen Pläne ungestört weiterverfolgen können – die Weltöffentlichkeit schweigt und schaut zu.
Am 26. Oktober 1938 ordnet Reinhard Heydrich, Chef der deutschen Sicherheitspolizei, die sofortige Ausweisung aller in Deutschland lebenden polnischen Juden an. Tausende Juden, eskortiert von Beamten mit Peitschen und Hunden, werden über die deutsch-polnische Grenze getrieben. Doch auch in Polen sind sie nicht willkommen. Viele harren tagelang im Niemandsland aus, ohne Dach über dem Kopf, ohne Nahrung und Wasser, Alte, Frauen und Kinder.
So ergeht es auch Zendel Grynszpan und seiner Familie, die seit Jahren in Hannover leben. Der jüngere Sohn Herszel, 17 Jahre alt, hält sich gerade in Paris bei Verwandten auf. Als er vom Martyrium seiner Angehörigen hört, kauft er eine Pistole und geht zur deutschen Botschaft, wo er den dritten Sekretär, Ernst vom Rath, niederschießt, in der Meinung, er habe den Botschafter vor sich.
Im ganzen Land Pogrome
Die Nazis nehmen das Attentat zum willkommenen Anlass, um im ganzen Land Pogrome anzuzetteln: Synagogen werden niedergebrannt, jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört, Juden werden gedemütigt und geschlagen, viele werden ermordet, tausende in Konzentrationslager verschleppt.
Auch in Österreich spielen sich ähnliche Szenen wie an der deutschpolnischen Grenze ab. Burgenländische Juden werden über die Grenzen zur Tschechoslowakei, zu Ungarn und zu Jugoslawien geschafft, von wo sie gleich wieder zurückgeschickt werden. Hunderte vegetieren wochenlang unter schlimmsten Bedingungen in der Grenzzone, etwa auf Donauschiffen – die Donau gilt als internationales Gewässer.
„Der November 1938 geschah vor aller Augen“, sagt der Schweizer Historiker Raphael Gross, „vor der Presse der Welt, vor den Gesandtschaften, vor allen Bürgern.“Die internationalen Proteste bleiben verhalten, Appeasement ist angesagt.
Krieg, Zerstörung, Vertreibung
Nach 1945, aufgerüttelt von den Millionen Toten des Holocaust,
kommen Europa und die Welt zur Besinnung. 1951 wird die Genfer
Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Ereignisse, die in den Genozid in Europa mündeten, die Gleichgültigkeit angesichts der hilflosen Opfer, die Verweigerung jeglicher Hilfe dürfen sich nicht wiederholen. Nie wieder!
Solche hochtrabenden Worte sind seither bei Gedenkveranstaltungen ständig zu hören, aus dem Mund von Politikern und anderen Festrednern. Bis heute.
Die Wirklichkeit ist anders. Wir bekommen täglich vor Augen geführt, wie Migranten und Flüchtlinge in Europa behandelt, misshandelt werden. Wir sehen aufwühlende Bilder, lesen erschütternde Berichte, insgeheim ahnend, dass die Realität noch viel grausamer ist. Die Phrasen der Politiker sind nichts weiter als leere Worthülsen, wie in Évian im Juli 1938, wie nach den Novemberpogromen.
Natürlich hinkt der Vergleich zwischen 1938 und heute. Heute kommen die Flüchtlinge aus weit entfernten Ländern, aus dem Nahen Osten, aus Asien und Afrika, aus anderen Kulturen, sie bringen andere Religionen mit, was zahlreiche Probleme nach sich zieht. Doch das berechtigt uns nicht, ihnen die fundamentalsten Rechte zu verweigern und sie ihrem Schicksal zu überlassen.
Wir sehen seit Jahren mit an, wie Kriege, Zerstörungen, Vertreibungen und Verfolgungen, die verheerenden Folgen des Klimawandels, Dürren und Hungersnöte, Kämpfe um Weideland und Wasser Millionen Menschen zwingen, aus ihrer Heimat zu fliehen und sich auf eine unsichere, oft tödliche Reise zu machen auf der Suche nach Sicherheit, einer kleinen Chance zu überleben.
Europa wird zur Festung
Und wieder machen die satten Demokratien die Grenzen dicht, auch in Europa. Unser Kontinent wird zur Festung, bewacht von schwer bewaffneten Grenzschützern, die Flüchtlinge immer öfter erbarmungslos abweisen und zurücktreiben, ohne dass sie ein Asylansuchen vorbringen können. Sie werden nicht gefragt, nicht gehört. Das nennt man Pushbacks, sie werden überall an den EU-Außengrenzen praktiziert, in Griechenland, in Bosnien, Kroatien, in Ungarn und seit einiger Zeit auch an den nordöstlichen Grenzen, in Lettland, Litauen und Polen.
Besonders radikale Auswüchse bringt diese ausländerfeindliche Haltung in Polen hervor, das sich als christliches Bollwerk Europas ver