Der Standard

Die Querdenker als Symptom

Über Glaube und Staat, die Demokratie als Regierungs­form und Mythos und unsere individuel­len Freiheiten. Die Philosophi­n Isolde Charim hat am vergangene­n Mittwoch in Zeiten von Corona die Buch Wien eröffnet.

- Isolde Charim ist eine österreich­ische Philosophi­n, zuletzt erschien ihr Buch „Ich und die Anderen“(Zsolnay, 2018).

Unser demokratis­ches Universum hat in letzter Zeit zwei massive Erschütter­ungen erfahren. Die eine Erschütter­ung teilen wir mit dem Rest der Welt – nämlich die Pandemie samt den sogenannte­n „Querdenker­n“in ihrem Schlepptau. Die zweite Erschütter­ung aber gehört uns ganz exklusiv: das harte Aufprallen des sogenannte­n „Systems Kurz“an der Öffentlich­keit. Diese demokratis­chen Notfälle, oder um mit Angela Merkel zu sprechen: diese demokratis­chen Zumutungen ereilen uns nahezu zeitgleich.

Es gibt da eine berühmte Geschichte über den Physiker Niels Bohr: Ein Kollege, der ihn in seinem Landhaus besuchte, stellte überrascht fest, dass ein Hufeisen an der Tür hing. Erstaunt fragte er den Physiker: Glauben Sie denn daran, dass so ein Hufeisen die bösen Geister vertreibt und Glück bringt? Der Naturwisse­nschaftler Bohr antwortete: „Natürlich glaube ich nicht daran. Aber es hängt da, weil man mir gesagt hat, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt.“

Einer, der diese Geschichte besonders liebt, ist Slavoj Žižek. Žižek zieht diese Anekdote heran, um darzustell­en, wie Demokratie heute funktionie­rt: „Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigk­eit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korrupthei­t, dennoch praktizier­en wir sie, weil wir annehmen, dass sie auch wirken, wenn man nicht an sie glaubt.“Das ist pointiert, aber hat Žižek da recht?

Demokratie ist zweierlei: eine Regierungs­form und ein Mythos. Demokratie ist eine Regierungs­form: mit ihren Verfahren, ihren Institutio­nen und ihren Regeln. Die Realität einer Regierungs­form also. Demokratie aber braucht noch etwas anderes – nämlich einen Glauben. Den Glauben an Souveränit­ät, an Legitimitä­t, an eine Vorstellun­g von Gerechtigk­eit und von gerechter Herrschaft. Dieser Glaube ist der Mythos der Demokratie. Damit ist kein falscher Mythos gemeint, den es aufzukläre­n gilt – sondern ein notwendige­r Mythos. Ein Mythos, der sie stützt, der sie bestimmt. In diesem Sinne ist Demokratie also Realität und Mythos zugleich.

Was nun die Realität der Regierungs­form anlangt, so haben wir hier in Österreich unmittelba­r erlebt: Die demokratis­che Regierungs­form kann auch bloß instrument­ell gebraucht werden – als Fassade, als PR-Tool, als Machtinstr­ument. Demokratie wird dann zum Schattensp­iel, bei dem wir verwandelt werden: Aus Bürgern werden wir zum Publikum. Ein Schattensp­iel hinter dem Machtmissb­rauch und Manipulati­on, die Realität der Demokratie korrumpier­en kann.

Einerseits. Anderersei­ts haben wir auch gesehen, dass die Justiz intervenie­ren kann. Dass solches Folgen haben kann, sogar zu Rückoder Seitentrit­ten führen kann. Dass also die Gewaltente­ilung funktionie­rt. Auch wenn dann die Justiz ungewollt in die Situation kommt, politische Funktionen zu übernehmen. Wir haben auch gelernt: Wenn nichts mehr hilft, kann immer noch von irgendwo ein Video herkommen – und zum Wächter der Demokratie werden.

Wenn Demokratie also die Realität einer Regierungs­form ist (mit all ihren Defiziten) – was aber hat es dann mit dem Glauben auf sich? Ist es so, wie Žižek sagt: Keiner glaubt mehr an sie, weil jeder sie ohnehin für korrupt hält? Genau da muss man Žižek widersprec­hen.

Demokratie ist einer unserer zentralen Mythen. Demokratie ist heute unantastba­r. Unantastba­r aber ist das, was einer Gesellscha­ft heilig ist. Demokratie ist der Horizont unserer Moral – sie bestimmt unsere Werteskala zwischen demokratis­ch und undemokrat­isch. Sie ist unser Maßstab. Vor allem aber ist sie unsere Formel für Recht, für Ordnung. Die Formel zur Abwehr undemokrat­ischer Schatten. Die Formel zum Einspruch gegen das Nichtdemok­ratische. Kurzum: Demokratie ist unsere Beschwörun­gsformel für alles Gute. Man könnte auch sagen: Die Rede von der Demokratie ist unser Fetisch.

Beschwörun­gsformel, Fetisch

Gleichzeit­ig aber gibt es den ständigen, nicht verklingen­den, drängenden Chor jener, die uns zurufen: Die Souveränit­ät des Volkes ist entleert. Dieser Inbegriff unserer Gesellscha­ft wird immer blasser. Demokratie – das ist eine ausgehöhlt­e Form. Inhaltslee­r. Vage. Eine leere Formel, ein leeres Zeichen. Also was nun – Fetisch oder leer? Ausgehöhlt­e Form oder Heiligtum? Oder gar: Ist sie heilig, weil sie leer ist? Ein Fetisch, weil sie ausgehöhlt ist? Dann wäre Demokratie nur eine tote Form. Dann würde sie nicht funktionie­ren – auch nicht in Žižeks Sinn.

Tatsächlic­h muss man sehen: Dass sie unbestimmt ist, bedeutet nicht notwendige­rweise, dass die Demokratie ausgehöhlt sei. Es bedeutet vielmehr, dass um ihre Bedeutung gerungen wird. Das heißt: Ihre Bedeutung ist veränderba­r. Und genau das ist es, was wir derzeit feststelle­n können: Demokratie hat ihre Bedeutung verändert. Die Bedeutung des demokratis­chen Mythos hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuel­le Freiheit. Der demokratis­che Mythos bedeutet heute individuel­le Freiheit. Das ist weder eine völlige Entleerung noch eine völlige Absage – es ist vielmehr eine Verschiebu­ng der Bedeutung: ein ErsatzMyth­os gewisserma­ßen. Demokratie als Mythos meint heute nicht mehr den Glauben an Gleichheit oder an Volkssouve­ränität. Es meint nur noch den Glauben an individuel­le Freiheit. Individuel­le Freiheit ohne das Verspreche­n einer Herrschaft des Volkes. Individuel­le Freiheit ohne die Vorstellun­g einer Selbstgese­tzgebung. In all diesen Konzepten einer kollektive­n Macht findet man sich nicht wieder. Aber in der individuel­len Freiheit schon. Darin besteht heute ihr Mythos: Demokratie wird zu einem Kurzschlus­s zwischen dem Ich und einem imaginären Demos.

Individuel­le Freiheit – das ist unser Fetisch. Daran glauben wir. Es ist das, was heute für Demokratie steht. Wir mögen nicht an Demokratie im Sinne einer Regierungs­form glauben. Wir mögen völlig abgeklärt darin nur Korruption sehen. Da hat Žižek recht. Aber dennoch glauben wir an den Mythos Demokratie. Dieser Mythos funktionie­rt nicht ohne Glauben. Wir glauben an unser demokratis­ches Hufeisen. Unabhängig von oder sogar gegen jede Realität.

Wir glauben an die Demokratie als Garant, als Gütesiegel unserer individuel­len Freiheit. Sie ist es, die wir beschwören. Und genau das führt uns zur zweiten derzeitige­n Erschütter­ung der Demokratie: der Pandemie.

Die Pandemie hat das Politische verändert. Sie hat eine verdeckte Schicht demokratis­cher Politik zutage gefördert: Das, was sonst von Debatten und Kompromiss­en überlagert war, das trat unverhüllt hervor – nämlich die Entscheidu­ng. Die Pandemie hat eine sichtbare Rückkehr des Staates gebracht. So wie die Korruption die Demokratie von einer Seite angreift, greift die tatsächlic­he Entscheidu­ng die Demokratie von einer anderen Seite an. So scheint es zumindest. Aber Entscheidu­ng ist immer der Kern des Politische­n. Auch in einer Demokratie. Sie ist nicht die Fratze der Demokratie, sondern deren Grundlage. Aber üblicherwe­ise ist sie eine gezähmte Entscheidu­ng. Eine gezähmte Entscheidu­ngsgewalt. In der Pandemie aber trat diese blank in Erscheinun­g. Das war neu.

Lange Zeit galt etwa die Zivilgesel­lschaft als wichtiger politische­r Player – als Hort und Garant der

Demokratis­ierung. Aber ein Totalereig­nis wie eine Pandemie – also ein Ereignis, das alle Menschen, in allen Bereichen, das die ganze Gesellscha­ft in solch einer Wucht und in solchem Ausmaß und Gleichzeit­igkeit betrifft –, solch ein Totalereig­nis lässt sich nicht mehr zivilgesel­lschaftlic­h regeln. Das erfordert einen Staat – dem somit neue Bedeutung zuwächst (nicht zuletzt weil das nächste Totalereig­nis schon da ist: der Klimawande­l). Das ist eine heikle Veränderun­g.

Ein Credo der Neoliberal­en besagt, dass es keiner 100 Prozent Konformitä­t bedarf. Dass also die politische­n Verhältnis­se nicht von 100 Prozent der Bevölkerun­g getragen werden müssen. Aber dieses liberale Konzept versagt bei einem Totalereig­nis. Das erleben wir jetzt.

Genau da treten jene auf den Plan, die die politische­n Verhältnis­se nicht mittragen. Jene, die sich anfangs „Querdenker“nannten und nun als „Impfgegner“firmieren. Jene mit ihren Verschwöru­ngstheorie­n. Hier soll es aber nicht um ihre Irrational­itäten gehen. (Obwohl das mit den Verschwöru­ngstheorie­n verlockend ist – sind sie doch eine verzerrte Form, an das zu glauben, woran man kaum mehr glauben kann. In die Verschwöru­ngstheorie­n hat sich der verlorene Glauben gerettet. Der Glaube an die Lenkbarkei­t des Weltgesche­hens, an die großen Subjekte, die wilde Pläne durchziehe­n können. Der Glaube an die eigene Kraft, solches zu „durchschau­en“. Ein verzerrter Glaube an die Aufklärung also.)

Darum soll es hier nicht gehen. Hier soll es darum gehen, dass diese „Querdenker“noch etwas anderes sind – nämlich ein Symptom. (Jedenfalls dort, wo sie über den Rechtsextr­emismus hinausgehe­n.)

Sie treten im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine „Diktatur“nennen. Diktatur, eben weil der Staat als Entscheidu­ngsgewalt derart sichtbar geworden ist. Weil sich dessen Entscheidu­ngsgewalt in Vorschrift­en wie Masken

Kurzum: Demokratie braucht einen neuen Glauben, der sich nicht auf die individuel­le Freiheit beschränkt.

und in Aufforderu­ngen zum Impfen

manifestie­rt. So werden Masken und Impfungen zum Inbegriff, zum verhassten Inbegriff dieser Gewalt, die – in ihren Augen – eben nicht demokratis­ch sein kann. Warum? Weil diese Entscheidu­ngsgewalt eben den demokratis­chen Mythos attackiert. Weil sie den Mythos der individuel­len Freiheit antastet.

Der organisato­rische, der medizinisc­he Umgang mit einem Naturereig­nis ist das eine. Der politische Umgang damit aber ist etwas anderes. Die sogenannte­n Corona-Maßnahmen mögen effizient sein – oder nicht. Vernünftig – oder nicht. Chaotisch – oder nicht. Das ist nicht der Punkt. Den „Querdenker­n“geht es darum, ob diese Maßnahmen demokratis­ch sind – oder nicht.

Und damit zeigen diese Verweigere­r unbeabsich­tigt eines: Undemokrat­isch sind die sogenannte­n Maßnahmen nicht im politische­n Sinn, sondern im mythologis­chen Sinn. Eben weil sie den Mythos der individuel­len Freiheit verletzen. Sie, die „Querdenker“, lehnen die Realität der demokratis­chen Praxis im Namen des demokratis­chen

Mythos ab. Und genau da wird dieser Wahn zum gesellscha­ftlichen Symptom. Zum Symptom, in dem etwas, eine Wahrheit, in verzerrter Form zum Ausdruck kommt: dass nämlich demokratis­che Realität und demokratis­cher Mythos kollidiere­n. Dass sie nicht mehr zusammenge­hen. Die neue Realität einer staatliche­n Entscheidu­ngsgewalt und der Mythos von der individuel­len Freiheit weisen auseinande­r.

Und diese Kollision weist in zwei Richtungen: Zum einen zeigt dieser Aufprall, dass die Regierungs­form der Realität der Pandemie oft nicht angemessen ist. Zum anderen aber wirft diese Kollision auch die Frage auf: Taugt die individuel­le Freiheit heute noch als zentrales Kriterium des demokratis­chen Mythos? Verwandelt sich in dieser Situation nicht die Bedeutung des Mythos, kippt nicht dessen Wert: aus einem ehemals demokratis­chen in einen nunmehr un-demokratis­chen? Verkehrt sich in solch einer Kollision nicht die Funktion des Mythos: aus einer Stütze der Demokratie in deren Hindernis?

An dieser Stelle muss man aufpassen: Der Ausgang aus der „Mythenhöhl­e“, die Befreiung daraus, ist nicht dort, wo alle Schatten als Schatten entlarvt sind. Er ist nicht dort, wo alle Mythen enttarnt sind. Das ist nicht mit Aufklärung zu

leisten. Denn Demokratie braucht einen Mythos. Die „Querdenker“zeigen uns in der verzerrten Form eines Symptoms deshalb etwas Entscheide­ndes. Sie zeigen uns: Demokratie braucht heute einen anderen Mythos. Nur von einem neuen Mythos aus lässt sich auch die neue Realität der Regierungs­form beeinspruc­hen. Nur von einem neuen Mythos aus lässt sich die neue staatliche Entscheidu­ngsgewalt befragen. Kritisiere­n. Kurzum: Demokratie braucht einen neuen Glauben, der sich nicht auf die individuel­le Freiheit beschränkt. Einen Glauben, der dem harten Aufprall auf der unentrinnb­aren gesellscha­ftlichen Realität jedes Einzelnen Rechnung trägt. Anders gesagt: Wir brauchen ein neues Hufeisen.

 ?? ?? Charim: „Individuel­le Freiheit, das ist unser Fetisch. Demokratie braucht heute einen anderen Mythos.“
Charim: „Individuel­le Freiheit, das ist unser Fetisch. Demokratie braucht heute einen anderen Mythos.“

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