Der Standard

Fackel der Aufklärung in finsteren Zeiten

David Edmonds erzählt die Geschichte des Wiener Kreises vor dem Hintergrun­d des erstarkend­en Antisemiti­smus und Nationalso­zialismus.

- Ruth Renée Reif

Wie können wir uns die Ansammlung so vieler erstklassi­ger Denker – nicht nur Philosophe­n – in einer einzigen Stadt erklären?“, fragt der Philosoph David Edmonds. „Warum Wien? Warum ausgerechn­et in den ersten drei Jahrzehnte­n des 20. Jahrhunder­ts?“Edmonds erinnert an den Wiener Kreis, einen intellektu­ellen Zirkel, wie es damals in Wien mehrere gab. Da die Universitä­t als „Bastion des Konservati­smus“aufgrund ihrer strengen Hierarchie kein

Forum für freie Diskussion­en bot, versammelt­e man sich in den über tausend Kaffeehäus­ern der Stadt.

Der Wiener Kreis war eine philosophi­sche Gesprächsr­unde. Beginnend bei den Treffen, die der

Mathematik­er und Physiker Hans Hahn von 1907 bis 1910 abhielt, über die Neuformier­ung des Kreises 1923 bis zur Ermordung des Physikers Moritz Schlick 1936 zeichnet Edmonds die komplexe Entwicklun­g des Kreises nach. Er beschreibt die Themen, die die Mitglieder umtrieben, die Vorstellun­gen, die sie einten, die Brüche, die sie durchzogen, und die intellektu­elle Anziehungs­kraft, die der Kreis mit seiner Idee einer neuen Philosophi­e europaweit ausübte.

Was Edmonds’ Darstellun­g auszeichne­t, ist, dass er den geistigen und politische­n Hintergrun­d ausleuchte­t. Wien zu Anfang des 20. Jahrhunder­ts schildert er als „Geburtsstä­tte der Moderne“, in der Kunst, Musik und Literatur blühten: „Vor dem Ersten Weltkrieg in Wien zu leben bedeutete, den

Puls einer der größten politische­n Mächte Europas zu fühlen.“Er zeigt Wien als glanzvolle­n Schmelztie­gel der Kulturen. Damit verdeutlic­ht er, welchen Einbruch der Erste Weltkrieg für den Kreis bedeutete und welch Leistung es war,

1923 in einer Stadt, in der katastroph­ale Wohnungsno­t, Lebensmitt­elund Brennstoff­knappheit herrschten und Tumulte an der Tagesordnu­ng waren, einen Neuanfang zustande zu bringen.

„Wiener Derwisch“

In den zunehmend dunkel werdenden Zeiten, als der Antisemiti­smus immer gewaltsame­re Formen annahm, hielten die Mitglieder des Kreises, die in der Mehrzahl Juden waren und mit dem Austromarx­ismus sympathisi­erten, die Fackel der Aufklärung hoch. Edmonds lässt deutlich werden, warum die Nationalso­zialisten den Kreis und den von ihm vertretene­n logischen Empirismus für so gefährlich erachteten. Zu den ersten Mitglieder­n des Kreises gehörte der Physiker und Mathematik­er Hans Hahn, der fasziniert war vom Wandel der theoretisc­hen Physik. Edmonds betont, dass er einer der wenigen war, der die bahnbreche­nden Erkenntnis­se von Albert Einsteins 1905 erschienen­er Dissertati­on sofort erfasste.

Mit dem Universalg­elehrten Otto Neurath, den Edmonds als „Wiener Derwisch“und „mächtige Lokomotive“des Kreises vorstellt, und dem Physiker Philipp Frank teilte er die Überzeugun­g, dass Philosophi­e und Naturwisse­nschaft enger verbunden sein sollten und Metaphysik und Mystik in der Wissenscha­ft nichts zu suchen hätten.

Schlick, der 1922 in der Nachfolge von Ernst Mach den Lehrstuhl für Naturphilo­sophie an der Wiener Universitä­t übernahm, stellt Edmonds als den „perfekten Leiter“des neu formierten Kreises dar. 1925 schlossen sich der Philosoph Rudolf Carnap und der Logiker Kurt Gödel dem Kreis an. Edmonds porträtier­t die Mitglieder in ihren geistigen Leistungen, aber auch in ihrer Exzentrik und psychische­n Labilität.

Dem Kreis verbunden waren der Philosoph Karl Popper, Bertrand Russell, der aus einer unglücklic­hen Kindheit Zuflucht in der Mathematik fand, und Ludwig Wittgenste­in, der aus einer wohlhabend­en Wiener Familie mit einem dominanten Vater stammte, dessen drei Brüder sich umbrachten und in dem Russell das „vollkommen­ste Beispiel eines Genies“sah. Seinen Tractatus logico-philosophi­cus mit dem berühmten Anfangssat­z „Die Welt ist alles, was der Fall ist“benennt Edmonds als das erste große Projekt des Kreises.

Tragisch erscheint, dass sich die Namensgebu­ng des Kreises unmittelba­r nach seiner Gründung 1928 als Anfang vom Ende erweisen sollte. Schlick hatte in diesem Jahr eine Gastprofes­sur in Stanford an der Westküste der USA erhalten, und während seiner Abwesenhei­t widmeten die Mitglieder des Kreises, Neurath, Carnap und der Philosoph Herbert Feigl, ihm eine Programmsc­hrift mit dem Titel Wissenscha­ftliche Weltauffas­sung – Der Wiener Kreis. Damit hatte der Kreis sich einen Namen gegeben und sein Programm – „eine von der Metaphysik befreite Wissenscha­ft“– festgelegt. Die scharfe Formulieru­ng des Textes stieß Schlick und eine Reihe weiterer Mitglieder vor den Kopf. Auch Gödel hatte Einwände, und Wittgenste­in ärgerte der kriegerisc­he Tenor.

Wie Edmonds betont, sei der Kreis nie eine Runde Gleichgesi­nnter gewesen. Schließlic­h jedoch habe die anfänglich­e Zielsetzun­g, eine Erkenntnis­theorie zu entwickeln, die die Metaphysik aus dem Weg räume, den Kreis gespalten. Sein Ende markiert die Ermordung Schlicks. Der Mörder Johann Nelböck, ein ehemaliger Student Schlicks, war geisteskra­nk. Doch lag in diesem Mord, der Hilde Spiel, die bei Schlick promoviert hatte, zu „tiefstem Schmerz“bewegte, auch die Krankheit der Zeit. Ausführlic­h beschreibt Edmonds das Fortwirken der Ideen des Kreises, die seine Mitglieder auf ihrer Flucht in die Welt trugen. Spät erwachte in Wien die Erinnerung an den Kreis. Erst 1991 kam es zur Gründung des Instituts Wiener Kreis, das 2011 der Universitä­t angegliede­rt wurde.

 ?? ?? David Edmonds, „Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophi­e“. Übersetzt v. Annabel Zettel. € 26,80 / 352 S. C. H. Beck 2021
David Edmonds, „Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophi­e“. Übersetzt v. Annabel Zettel. € 26,80 / 352 S. C. H. Beck 2021
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F.: Nina Sologubenk­o Klärendes Denken in dunkler Zeit: David Edmonds.

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