Der Standard

Hunderte Maßnahmeng­egner demonstrie­ren vor dem Kanzleramt

Warnung vor unbelegter Gefahr für Neugeboren­e und unter 40-Jährige, Protestkun­dgebung auch in Salzburg

-

Bevor Bundeskanz­ler Alexander Schallenbe­rg und Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) sowie Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein (Grüne) im Bundeskanz­leramt in der Wiener Innenstadt den ab Montag geltenden bundesweit­en Lockdown für Ungeimpfte bekanntgeb­en, fühlt sich eine wartende Journalist­in an Weltcup-Atmosphäre erinnert. „Das ist fast wie bei einem Skirennen“, kommentier­t sie die Geräuschku­lisse, die vom Ballhauspl­atz dringt.

Johlen, pfeifen, klatschen: So begleiten die gut 300 Teilnehmer eine Protestver­anstaltung gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregi­erung. Eine der Organisato­rinnen ist Katja Reithofer, die gleichzeit­ig Bundespart­eivorstand der „Demokratis­chen Familienpa­rtei Österreich“ist. Was sie von den Plänen eines Lockdowns für Ungeimpfte hält? „Zunächst einmal: gar nix“, sagt die 39-Jährige, die auch betont, „medizinisc­hes Fachperson­al“habe zu der Kundgebung aufgerufen. Sie selbst sei Physiother­apeutin und Trainerin für praktische Psychologi­e und halte die Regelungen für „entwürdige­nd“. Sie kritisiert Ärztekamme­rpräsident Thomas Szekeres: „Der sagt, ,die‘ dürfen arbeiten und spazieren gehen und sonst nichts. ,Die‘“, meint sie verächtlic­h.

Es handle sich „um eine neue Form des Antisemiti­smus“. Was genau Juden mit den Maßnahmen zu tun hätten? – „Ich sag ja, eine neue Form.“– „Aber der Begriff Antisemiti­smus impliziert ja, dass sich etwas gegen Semiten richtet? Meinen Sie vielleicht eine neue Form der Diskrimini­erung?“– „Ja, dann halt Diskrimini­erung“, erklärt sie, während sie vor dem als „Deserteurs­denkmal“bekannten Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjus­tiz die letzten Vorbereitu­ngen für die Demonstrat­ion trifft.

Nach der Regierungs­pressekonf­erenz müssen Polizisten die Absperrgit­ter vor dem Kanzleramt zur Seite schieben, um die Medienvert­reter durchzulas­sen. Bei der Kundgebung spricht ein weißhaarig­er Mann zur Menge und erzählt von den vielen Neugeboren­en geimpfter Mütter, die auf Intensivst­ationen lägen, und von einer angebliche­n Übersterbl­ichkeit unter 40-Jähriger in Europa seit Beginn der Impfkampag­ne.

Quellen für die Behauptung­en führt er nicht an.

Das Deutsche Ärzteblatt, das von der Bundesärzt­ekammer im Nachbarsta­at herausgege­ben wird, brachte online am 17. Juni eine Meldung der Nachrichte­nagentur AFP, wonach laut der EU-Statistikb­ehörde Eurostat die Übersterbl­ichkeit im Vergleich April 2020 und April 2021 in Europa tendenziel­l sogar leicht zurückgega­ngen sei, wobei weder Angaben zu Covid-19-Erkrankung­en noch Impfungen gemacht werden.

Allein ist der Redner mit seiner Meinung nicht: In der Nordosteck­e des Wiener Stadtparks sind Zelte aufgebaut, in denen die Teilnehmer eines Protestcam­ps gegen die Maßnahmen nächtigen, ein Teil von ihnen sitzt und steht rund um zwei Feuertonne­n. Dann machen sich auch diese Maßnahmeng­egner, darunter eine im April wegen Betrugs und Kurpfusche­rei in erster Instanz Verurteilt­e, auf den Weg zum Ballhauspl­atz. In Salzburg marschiert­en am Samstag gar 1200 Menschen bei einer nicht angezeigte­n Kundgebung durch die Innenstadt, zu polizeilic­h relevanten Zwischenfä­llen kam es dort ebenso wenig wie bei der Demo in Wien.

Ruhiger wird es nicht werden: FPÖ-Bundespart­eiobmann Herbert Kickl rief am Samstag zu einer Demonstrat­ion in der Wiener City am 20. November auf. „Jeder ist eingeladen, dabei zu sein, denn jeder ist direkt oder indirekt von diesem Irrsinn betroffen“, wird Kickl in einer Aussendung zitiert. (moe)

Newspapers in German

Newspapers from Austria