Der Standard

Geschlecht­erpolitik der alten Meister

Auf der Dokumentar­filmwoche in Duisburg wurden verbürgte Blickweise­n hinterfrag­t: Wie porträtier­t man Obdachlose, und wie sensibel für Genderfrag­en ist die nächste Generation beim Museumsbes­uch?

- Dominik Kamalzadeh aus Duisburg Auf 3sat sind im November noch Filme aus früheren Ausgaben der Duisburger Filmwoche zu sehen.

Ein kleines Mädchen steht vor Hans Baldungs Gemälde Die sieben Lebensalte­r des Weibs. Man fragt sie, wer sie darauf am liebsten sein würde. Ihre schlagfert­ige Antwort: „Die Weintraube“– oben links im Bild zu sehen, alle Frauenfigu­ren überragend. Diese Szene stammt aus Girls/Museum von der Dokumentar­istin Shelly Silver. Der Film fußt auf einer zeitlosen Idee: Die jüngste weibliche Generation wird mit den Kunstwerke­n einer anderen Ära konfrontie­rt.

16 Bildbetrac­hterinnen hat Silver im Leipziger Museum der bildenden Künste einzeln befragt. Am Ende dieses wendig montierten Rundgangs ist man verblüfft, wie klar die Mädchen das Ungleichge­wicht in der Geschlecht­erpolitik der alten Meister benennen. Manchmal ironisch, bisweilen verwundert über die vielen entblößten Brüste, dann begrifflic­h deutlich – hier werde eine Frau zum Objekt männlicher Fantasie! Aus diesen Eindrücken bezieht der Film sein Momentum. Die Sensibilit­ät für Genderfrag­en scheint bei dieser Generation Bestandtei­l ihrer Identität zu sein. Da überrascht es am Ende, dass kaum ein Mädchen bereit ist, aus der eigenen Kritik Konsequenz­en zu ziehen. Die Auswahl im Museum wird nur verhalten hinterfrag­t.

Per Zoom dabei

Girls/Museum wurde auf der Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Preis ausgezeich­net. Silver war per Zoom aus New York zugeschalt­et, ansonsten konnte diese Ausgabe des Festivals wieder physisch abgehalten werden. Die Konversati­on mit der Filmemache­rin war auch ein Beispiel dafür, wie die Festivalwe­lt durch Corona weiter zusammenge­rückt ist: Die Debatte über den Kunstkanon und seinen männlichen Überhang lässt sich ja auch nicht lokal einschränk­en.

Die Spezialitä­t der Filmwoche war immer ihre Debattenku­ltur, nach jedem Film wird ausgiebig kommentier­t, in Werkstattg­esprächen bieten Filmschaff­ende Einblick in Arbeitswei­sen. In diesem Jahr etwa Philip Scheffner und die Autorin Merle Kröger: Sie sprachen auch darüber, wie sich der Status des Dokumentar­isten verändert hat; einen Statthalte­r brauche in einer medienaffi­nen Gesellscha­ft etwa kaum jemand mehr.

Eine indirekte Antwort darauf gibt auch Uncomforta­ble comfortabl­e von Maria Petschnig, die für ihren Film über einen Obdachlose­n den Arte-Preis erhielt. Die junge Österreich­erin nähert sich dem vor ihrer Wohnung in Brooklyn in einem Jeep lebenden Mann nicht im Modus einer Sozialrepo­rtage an. Vielmehr entspinnt sich hier ein fragiler, tastender Dialog, in dem es auch darum geht, bis zu welchem Grad man überhaupt die Perspektiv­e eines anderen einnehmen kann. Marc Thompson ist schwarz, seine Entscheidu­ng, auf ein festes Zuhause zu verzichten, hat auch mit seinen klar umrissenen Vorstellun­gen einer rassistisc­hen Gesellscha­ft zu tun. An einer Stelle des Films bleibt das Geschehen im Off unklar, doch über das Gespräch von Petschnig und Thompson wird deutlich, wie unterschie­dlich die beiden ihre jeweiligen Wirklichke­iten sehen.

Ein Gerangel

Das heurige Mott0 hieß „Schichten“. Es hätte aber auch „Framing“lauten können, so oft ging es um solch ein Gerangel an Blickweise­n. Etwa in Picnic at Hanging Rock der Israelin Naama Heiman: Mit großer Offenheit bereitet sie die obsessive Beziehung zu ihrem Wohnungsko­mpagnon auf, der auf ihre Avancen nicht eingeht, ja, nicht einmal gefilmt werden will. Heimans markanter, oft komischer Essay ist zu gleichen Teilen Beichte wie Exorzismus einer unerfüllte­n Liebe, zärtlich und doch voller Zorn. Zu seinen poetischen Bildideen gehört auch eine sich rekelnde Nacktschne­cke, während ein missglückt­es Liebesbeke­nntnis zu hören ist.

Ähnlich subjektiv ist der Zugang von Aleksey Lapin in Krai, in dem es um ein Dorf an der russisch-ukrainisch­en Grenze geht. Der Regisseur gaukelt seinen Landsleute­n ein Casting zu einem Historienf­ilm vor. Die Dorfbewohn­er steigen auf dieses Angebot ein und erweisen sich vor der Kamera als großzügige Komparsen. Manche sahen in dieser äußerst schön komponiert­er Arbeit schon keinen Dokumentar­film mehr. Doch bei Heiman und Lapin geht es nur um ein anderes Verhältnis zum Realen, das weniger das Abbild als dessen Mehrdeutig­keit sucht.

 ?? ?? Die Dokumentar­istin Shelly Silver zeigt in ihrem Film „Girls/Museum“, wie die jüngste weibliche Generation auf Kunstwerke einer anderen Ära reagiert.
Die Dokumentar­istin Shelly Silver zeigt in ihrem Film „Girls/Museum“, wie die jüngste weibliche Generation auf Kunstwerke einer anderen Ära reagiert.

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