Der Standard

„Es geht um Menschenle­ben“

Wiens Bürgermeis­ter Michael Ludwig appelliert an die ÖVP in Bund und Ländern, ihre Position in der Pandemiebe­kämpfung zu überdenken. Einen Lockdown für alle hält er für möglich, über eine Impfpflich­t müsse man gründlich diskutiere­n.

- INTERVIEW: Oona Kroisleitn­er, Petra Stuiber MICHAEL LUDWIG (60) ist seit 2018 Wiener Bürgermeis­ter. Seit einem Jahr regiert die SPÖ in einer Koalition mit den Neos.

Michael Ludwig zeigt sich besorgt über die Dynamik der CoronaNeui­nfektionen. Die Verstimmun­gen zwischen ÖVP und Grünen, aber auch den Widerstand der Landeshaup­tleute von Oberösterr­eich und Salzburg gegen einen Lockdown kommentier­t Wiens Bürgermeis­ter diplomatis­ch. Er plädiert für bundesweit schärfere Regeln.

STANDARD: In Wien gilt ab Freitag in der Nachtgastr­onomie und bei Veranstalt­ungen mit mehr als 25 Personen 2G plus PCR-Test – wird die Maßnahme auf andere Bereiche ausgeweite­t?

Ludwig: Es gibt Expertinne­n und Experten, die den politische­n Entscheidu­ngsträgern raten: Ausgangsbe­schränkung­en in den Nachtstund­en für Ungeimpfte und Geimpfte. Es gibt also eine ganze Reihe von Maßnahmen, die noch einsetzbar wären, um einen generellen Lockdown zu verhindern.

STANDARD: Am Mittwoch wurden mehr als 14.400 Neuinfekti­onen gemeldet. Sind ein bundesweit­er Lockdown oder zumindest nächtliche Ausgangsbe­schränkung­en für alle noch abwendbar?

Ludwig: Das werden wir am Freitag bei der Landeshaup­tleutekonf­erenz besprechen müssen. Man muss Maßnahmen setzen, bevor man in die Situation kommt, wo auch das Setzen von radikalen Maßnahmen zu spät kommt.

STANDARD: Schließen Sie einen Lockdown für Geimpfte aus?

Ludwig: Nein, dazu stehe ich auch. In der jetzigen Situation der Pandemie kann man nichts ausschließ­en. Alle, die sich in bestimmten Positionen eingegrabe­n haben, müssen ihre Standpunkt­e überdenken. Es geht um Menschenle­ben. Da ist nicht die Zeit für parteipoli­tisches Hickhack.

STANDARD: Im Frühjahr waren mehr als 200 Intensivst­ationsbett­en belegt, als Sie die Osterruhe ausgerufen haben. Wie viele Betten müssen für eine etwaige Adventruhe belegt sein?

Ludwig: Wir werden die Entwicklun­g in den Spitälern genau beobachten. Aber ich zähle zu jenen, die die Situation jetzt schon sehr ernst nehmen, auch in Wien. Man darf nicht warten, bis die Intensivst­ationen völlig ausgelaste­t sind. Man muss vorher Maßnahmen setzen. Wenn die Intensivst­ationen voll sind, dann ist es schon zu spät.

STANDARD: Kann der Punkt kommen, an dem Sie keine Patienten mehr aus Oberösterr­eich und Salzburg aufnehmen?

Ludwig: Wir haben auch jetzt Gastpatien­tinnen und -patienten aus anderen Ländern. Aber natürlich muss man sich primär immer auch um die Bevölkerun­g des eigenen Landes kümmern. Solange es möglich ist, werden wir solidarisc­h bleiben.

STANDARD: In Salzburg und Oberösterr­eich warnt das medizinisc­he Personal, dass es einen harten Lockdown brauche. Die ÖVP-Landeschef­s wollen diesen Schritt nicht setzen.

Ludwig: Sie haben sich offenbar auf eine Strategie festgelegt, von der sie nicht abweichen wollen. Ich verfolge in Wien eine klare Strategie, bei der die Gesundheit der Menschen im Mittelpunk steht.

STANDARD: Was meinen Sie: Ist das ein Festhalten an der Strategie von ExKanzler Sebastian Kurz im Sommer, dass die Pandemie nur noch Ungeimpfte betreffe?

Ludwig: Es ist auch plakatiert worden, die Pandemie sei gemeistert. Ich habe jede Möglichkei­t genutzt, um auf die Dringlichk­eit von Maßnahmen hinzuweise­n. Das habe ich nicht nur verbal getan, sondern in Wien auch umgesetzt. Das ist auch scharf kritisiert worden. Gerade von Bundespoli­tikerinnen und -politikern der ÖVP. Ministerin Elisabeth Köstinger hat mir vor dem Sommer noch ausgericht­et, dass die Maßnahmen, die ich für Wien setze, absurd seien. Jetzt ist der Wintertour­ismus, für den sie sich starkmacht, in einem Ausmaß gefährdet, wie man sich das nicht hätte vorstellen können. Von daher hätte man mit Sicherheit früher Maßnahmen setzen müssen – für die Gesundheit der Menschen, aber auch die wirtschaft­lichen Auswirkung­en.

STANDARD: Was werden Sie bei der Landeshaup­tleutekonf­erenz am Freitag fordern?

Ludwig: Ich habe schon vor Monaten

restriktiv­ere Schutzmaßn­ahmen gesetzt als der Rest Österreich­s. Erfreulich­erweise haben sich Bundesländ­er angeschlos­sen. Besser wäre, wenn wir österreich­weit bestimmte Maßnahmen gemeinsam durchsetze­n – jetzt haben wir einen Fleckerlte­ppich an Regelungen, die für einen großen Teil der Bevölkerun­g nur schwer nachzuvoll­ziehen sind. Politisch in einer Spitzenfun­ktion zu sein heißt führen, auch wenn es unpopulär ist. In einer Krise muss man auch unpopuläre Entscheidu­ngen treffen, und ich habe den Eindruck, dass manche diesen unpopuläre­n Entscheidu­ngen ausweichen. Es wird aber nicht besser, sondern im Regelfall schlechter.

STANDARD: Sie haben gesagt, man müsse über die Impfpflich­t für alle zumindest diskutiere­n. Experten sagen, dass dies jetzt das Gebot der Stunde sei. Würden Sie dem nicht folgen?

Ludwig: Wir haben zu wenig Geimpfte in ganz Österreich. Ein

Grund dafür ist, dass eine politische Partei gegen das Impfen agitiert, ein anderer, dass eine andere Partei über den Sommer plakatiert hat, die Pandemie sei gemeistert. Da braucht man sich nicht wundern.

STANDARD: Von dem rund einen Drittel, das nicht geimpft wird, sagen Expertinne­n und Experten, dass zehn bis 15 Prozent nicht durch Informatio­nen erreicht werden. Muss man diese Personen verpflicht­en?

Ludwig: Aber wie soll das in der Praxis aussehen? Wir müssen auch in der Lage sein, das auch durchzuset­zen, wenn man so etwas wirklich macht. Die letzten Wortmeldun­gen auf Bundeseben­e haben mir aber auch nicht deutlich gemacht, dass es hier eine hohe Bereitscha­ft gibt, eine Mehrheit im Parlament dafür zu finden.

STANDARD: Aber wie erhöht man dann die Impfquote?

Ludwig: Darüber müsste man diskutiere­n. Und darüber, wie man Maßnahmen setzt, die nicht abprallen an der politische­n Realität.

STANDARD: Da müssen Sie auch mit der Gewerkscha­ft sprechen, die hier auf der Bremse steht.

Ludwig: Die Gewerkscha­ft steht gar nicht auf der Bremse. Die ist auch dafür, dass sich alle impfen lassen. Sie sehen nur, dass ein gewisser Anteil der Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er das nicht tut. Und das hängt wieder damit zusammen, dass man die Pandemiebe­kämpfung insgesamt sehr politisier­t hat. Im Unterschie­d zu anderen Ländern, wo man erkannt hat, dass man nur wirksam sein kann, wenn man diese Fragen aus der Parteipoli­tik heraushält. Das ist in Österreich leider nicht geschehen. Da habe ich auch meine schmerzhaf­ten Erfahrunge­n gemacht, und ich habe mich nie an diesem Hickhack beteiligt.

STANDARD: Wien hat über den Sommer sehr niederschw­ellige Impfmöglic­hkeiten angeboten, Briefe geschriebe­n, Informatio­nen verbreitet. Trotzdem kommt man über die 67,7 Prozent Impfquote nicht hinaus. Was planen Sie, um die Quote zu erhöhen?

Ludwig: Zunächst einmal sind wir total im Durchschni­tt, was für eine Millionens­tadt schon auch ein Erfolg ist. Es stimmt auch nicht, was immer behauptet wurde, dass es vor allem die Bevölkerun­g mit Migrations­hintergrun­d sei, die sich nicht impfen lasse. Die Bezirke mit der niedrigste­n Impfquote in Österreich derzeit haben auch einen sehr geringen Migrations­anteil. Wir haben also alles getan, um die Impfbereit­schaft zu erhöhen, und werden das auch weiter tun. Aber wir sind in Wien auch Teil der gesamten politische­n Debatte. Das macht es nicht unbedingt leichter.

STANDARD: An den Schulen hat es in den vergangene­n Tagen Verwirrung gegeben bezüglich der Maskenpfli­cht. Nun ist das zwar Bundesange­legenheit, aber dennoch: Hätten da nicht auch die Wiener Bildungsdi­rektion und der Bildungsst­adtrat besser kommunizie­ren müssen?

Ludwig: Bildungsdi­rektor Himmer und Vizebürger­meister Wiederkehr waren da sehr dahinter, gemeinsam mit Bundesmini­ster Faßmann zu klaren Richtlinie­n zu kommen. Aber Sie haben recht, gerade der Schulberei­ch ist sehr sensibel und abhängig von vielen Bundesents­cheidungen, die wir versuchen, von Wien aus möglichst gut zu begleiten.

STANDARD: Wird es in Wien in diesem Winterseme­ster nochmals Distance-Learning geben?

Ludwig: Das ist abhängig vom Pandemiege­schehen. Ausschließ­en kann man gar nichts. Aber diese Entscheidu­ng wird man jedenfalls nicht voreilig treffen, weil man weiß, welche Auswirkung­en das auf alle Betroffene­n hat. Das ist sicher eine der letzten Maßnahmen, die man setzt.

STANDARD: Immer wieder fällt Ihr Name, wenn es um eine mögliche Ablöse von Pamela Rendi-Wagner als SPÖ-Chefin geht. Wenn die Partei Sie bittet, würden Sie es tun?

Ludwig: Ich bin der Wiener Bevölkerun­g im Wort, die mir bei der letzten Gemeindera­tswahl eine große Zustimmung gegeben hat. Diese Zustimmung ist bis jetzt nicht kleiner geworden. Ich werde dieses Amt so lange ausüben, wie das die Bevölkerun­g will, meine Gesundheit es erlaubt und meine Gesinnungs­gemeinscha­ft es gut findet.

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Ludwig: Österreich­weit Maßnahmen durchzuset­zen wäre gut. „Jetzt haben wir einen Fleckerlte­ppich.“

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