„Es geht um Menschenleben“
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig appelliert an die ÖVP in Bund und Ländern, ihre Position in der Pandemiebekämpfung zu überdenken. Einen Lockdown für alle hält er für möglich, über eine Impfpflicht müsse man gründlich diskutieren.
Michael Ludwig zeigt sich besorgt über die Dynamik der CoronaNeuinfektionen. Die Verstimmungen zwischen ÖVP und Grünen, aber auch den Widerstand der Landeshauptleute von Oberösterreich und Salzburg gegen einen Lockdown kommentiert Wiens Bürgermeister diplomatisch. Er plädiert für bundesweit schärfere Regeln.
STANDARD: In Wien gilt ab Freitag in der Nachtgastronomie und bei Veranstaltungen mit mehr als 25 Personen 2G plus PCR-Test – wird die Maßnahme auf andere Bereiche ausgeweitet?
Ludwig: Es gibt Expertinnen und Experten, die den politischen Entscheidungsträgern raten: Ausgangsbeschränkungen in den Nachtstunden für Ungeimpfte und Geimpfte. Es gibt also eine ganze Reihe von Maßnahmen, die noch einsetzbar wären, um einen generellen Lockdown zu verhindern.
STANDARD: Am Mittwoch wurden mehr als 14.400 Neuinfektionen gemeldet. Sind ein bundesweiter Lockdown oder zumindest nächtliche Ausgangsbeschränkungen für alle noch abwendbar?
Ludwig: Das werden wir am Freitag bei der Landeshauptleutekonferenz besprechen müssen. Man muss Maßnahmen setzen, bevor man in die Situation kommt, wo auch das Setzen von radikalen Maßnahmen zu spät kommt.
STANDARD: Schließen Sie einen Lockdown für Geimpfte aus?
Ludwig: Nein, dazu stehe ich auch. In der jetzigen Situation der Pandemie kann man nichts ausschließen. Alle, die sich in bestimmten Positionen eingegraben haben, müssen ihre Standpunkte überdenken. Es geht um Menschenleben. Da ist nicht die Zeit für parteipolitisches Hickhack.
STANDARD: Im Frühjahr waren mehr als 200 Intensivstationsbetten belegt, als Sie die Osterruhe ausgerufen haben. Wie viele Betten müssen für eine etwaige Adventruhe belegt sein?
Ludwig: Wir werden die Entwicklung in den Spitälern genau beobachten. Aber ich zähle zu jenen, die die Situation jetzt schon sehr ernst nehmen, auch in Wien. Man darf nicht warten, bis die Intensivstationen völlig ausgelastet sind. Man muss vorher Maßnahmen setzen. Wenn die Intensivstationen voll sind, dann ist es schon zu spät.
STANDARD: Kann der Punkt kommen, an dem Sie keine Patienten mehr aus Oberösterreich und Salzburg aufnehmen?
Ludwig: Wir haben auch jetzt Gastpatientinnen und -patienten aus anderen Ländern. Aber natürlich muss man sich primär immer auch um die Bevölkerung des eigenen Landes kümmern. Solange es möglich ist, werden wir solidarisch bleiben.
STANDARD: In Salzburg und Oberösterreich warnt das medizinische Personal, dass es einen harten Lockdown brauche. Die ÖVP-Landeschefs wollen diesen Schritt nicht setzen.
Ludwig: Sie haben sich offenbar auf eine Strategie festgelegt, von der sie nicht abweichen wollen. Ich verfolge in Wien eine klare Strategie, bei der die Gesundheit der Menschen im Mittelpunk steht.
STANDARD: Was meinen Sie: Ist das ein Festhalten an der Strategie von ExKanzler Sebastian Kurz im Sommer, dass die Pandemie nur noch Ungeimpfte betreffe?
Ludwig: Es ist auch plakatiert worden, die Pandemie sei gemeistert. Ich habe jede Möglichkeit genutzt, um auf die Dringlichkeit von Maßnahmen hinzuweisen. Das habe ich nicht nur verbal getan, sondern in Wien auch umgesetzt. Das ist auch scharf kritisiert worden. Gerade von Bundespolitikerinnen und -politikern der ÖVP. Ministerin Elisabeth Köstinger hat mir vor dem Sommer noch ausgerichtet, dass die Maßnahmen, die ich für Wien setze, absurd seien. Jetzt ist der Wintertourismus, für den sie sich starkmacht, in einem Ausmaß gefährdet, wie man sich das nicht hätte vorstellen können. Von daher hätte man mit Sicherheit früher Maßnahmen setzen müssen – für die Gesundheit der Menschen, aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen.
STANDARD: Was werden Sie bei der Landeshauptleutekonferenz am Freitag fordern?
Ludwig: Ich habe schon vor Monaten
restriktivere Schutzmaßnahmen gesetzt als der Rest Österreichs. Erfreulicherweise haben sich Bundesländer angeschlossen. Besser wäre, wenn wir österreichweit bestimmte Maßnahmen gemeinsam durchsetzen – jetzt haben wir einen Fleckerlteppich an Regelungen, die für einen großen Teil der Bevölkerung nur schwer nachzuvollziehen sind. Politisch in einer Spitzenfunktion zu sein heißt führen, auch wenn es unpopulär ist. In einer Krise muss man auch unpopuläre Entscheidungen treffen, und ich habe den Eindruck, dass manche diesen unpopulären Entscheidungen ausweichen. Es wird aber nicht besser, sondern im Regelfall schlechter.
STANDARD: Sie haben gesagt, man müsse über die Impfpflicht für alle zumindest diskutieren. Experten sagen, dass dies jetzt das Gebot der Stunde sei. Würden Sie dem nicht folgen?
Ludwig: Wir haben zu wenig Geimpfte in ganz Österreich. Ein
Grund dafür ist, dass eine politische Partei gegen das Impfen agitiert, ein anderer, dass eine andere Partei über den Sommer plakatiert hat, die Pandemie sei gemeistert. Da braucht man sich nicht wundern.
STANDARD: Von dem rund einen Drittel, das nicht geimpft wird, sagen Expertinnen und Experten, dass zehn bis 15 Prozent nicht durch Informationen erreicht werden. Muss man diese Personen verpflichten?
Ludwig: Aber wie soll das in der Praxis aussehen? Wir müssen auch in der Lage sein, das auch durchzusetzen, wenn man so etwas wirklich macht. Die letzten Wortmeldungen auf Bundesebene haben mir aber auch nicht deutlich gemacht, dass es hier eine hohe Bereitschaft gibt, eine Mehrheit im Parlament dafür zu finden.
STANDARD: Aber wie erhöht man dann die Impfquote?
Ludwig: Darüber müsste man diskutieren. Und darüber, wie man Maßnahmen setzt, die nicht abprallen an der politischen Realität.
STANDARD: Da müssen Sie auch mit der Gewerkschaft sprechen, die hier auf der Bremse steht.
Ludwig: Die Gewerkschaft steht gar nicht auf der Bremse. Die ist auch dafür, dass sich alle impfen lassen. Sie sehen nur, dass ein gewisser Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das nicht tut. Und das hängt wieder damit zusammen, dass man die Pandemiebekämpfung insgesamt sehr politisiert hat. Im Unterschied zu anderen Ländern, wo man erkannt hat, dass man nur wirksam sein kann, wenn man diese Fragen aus der Parteipolitik heraushält. Das ist in Österreich leider nicht geschehen. Da habe ich auch meine schmerzhaften Erfahrungen gemacht, und ich habe mich nie an diesem Hickhack beteiligt.
STANDARD: Wien hat über den Sommer sehr niederschwellige Impfmöglichkeiten angeboten, Briefe geschrieben, Informationen verbreitet. Trotzdem kommt man über die 67,7 Prozent Impfquote nicht hinaus. Was planen Sie, um die Quote zu erhöhen?
Ludwig: Zunächst einmal sind wir total im Durchschnitt, was für eine Millionenstadt schon auch ein Erfolg ist. Es stimmt auch nicht, was immer behauptet wurde, dass es vor allem die Bevölkerung mit Migrationshintergrund sei, die sich nicht impfen lasse. Die Bezirke mit der niedrigsten Impfquote in Österreich derzeit haben auch einen sehr geringen Migrationsanteil. Wir haben also alles getan, um die Impfbereitschaft zu erhöhen, und werden das auch weiter tun. Aber wir sind in Wien auch Teil der gesamten politischen Debatte. Das macht es nicht unbedingt leichter.
STANDARD: An den Schulen hat es in den vergangenen Tagen Verwirrung gegeben bezüglich der Maskenpflicht. Nun ist das zwar Bundesangelegenheit, aber dennoch: Hätten da nicht auch die Wiener Bildungsdirektion und der Bildungsstadtrat besser kommunizieren müssen?
Ludwig: Bildungsdirektor Himmer und Vizebürgermeister Wiederkehr waren da sehr dahinter, gemeinsam mit Bundesminister Faßmann zu klaren Richtlinien zu kommen. Aber Sie haben recht, gerade der Schulbereich ist sehr sensibel und abhängig von vielen Bundesentscheidungen, die wir versuchen, von Wien aus möglichst gut zu begleiten.
STANDARD: Wird es in Wien in diesem Wintersemester nochmals Distance-Learning geben?
Ludwig: Das ist abhängig vom Pandemiegeschehen. Ausschließen kann man gar nichts. Aber diese Entscheidung wird man jedenfalls nicht voreilig treffen, weil man weiß, welche Auswirkungen das auf alle Betroffenen hat. Das ist sicher eine der letzten Maßnahmen, die man setzt.
STANDARD: Immer wieder fällt Ihr Name, wenn es um eine mögliche Ablöse von Pamela Rendi-Wagner als SPÖ-Chefin geht. Wenn die Partei Sie bittet, würden Sie es tun?
Ludwig: Ich bin der Wiener Bevölkerung im Wort, die mir bei der letzten Gemeinderatswahl eine große Zustimmung gegeben hat. Diese Zustimmung ist bis jetzt nicht kleiner geworden. Ich werde dieses Amt so lange ausüben, wie das die Bevölkerung will, meine Gesundheit es erlaubt und meine Gesinnungsgemeinschaft es gut findet.