Der Standard

Das Trauma von Bergamo

Im Frühjahr 2020 mussten in Italien Ärzte entscheide­n, wer maximale medizinisc­he Hilfe bekommt. Und wer nicht.

- Dominik Straub aus Rom

Am schlimmste­n war es in Bergamo: Aus dem Spital Papst Johannes XXIII., dem drittgrößt­en in der norditalie­nischen Region Lombardei, kam am 17. März 2020 die Nachricht: „Alle 80 Intensivbe­tten sind belegt.“Die täglich neu ankommende­n Covid-Patienten wurden auf Korridore, in Warte- und sogar in Badezimmer gelegt. Die TV-Bilder von dutzenden Patienten unter Sauerstoff­zelten gingen um die Welt. „Ich werde es nie vergessen können: Von überall her kommen Patienten mit schweren Lungen- und Atemproble­men, die röcheln und um Luft ringen“, berichtete damals der Chefarzt für Lungenkran­kheiten, Fabiano Di Marco.

Im Spital von Bergamo wurden am Höhepunkt der ersten Welle bis zu 500 Covid-Patienten gleichzeit­ig behandelt; der Sauerstoff­verbrauch auf der Intensivst­ation betrug 8600 Liter pro Stunde. Das Personal arbeitete an der Grenze der Belastbark­eit und darüber hinaus. Freie Plätze auf der Intensivst­ation gab es nur noch, wenn Patienten sich erholten oder verstarben – das waren etwa 25 pro Tag.

Gleichzeit­ig wurden aber täglich zwischen 70 und 100 neue Covid-Patienten eingeliefe­rt; vor der Notaufnahm­e standen dutzende Rettungsfa­hrzeuge mit schwerkran­ken oder sterbenden Menschen, zum Teil bis zu zwölf Stunden lang. Zwar konnten viele Patienten in die Spitäler weniger stark betroffene­r Regionen transporti­ert werden – aber längst nicht alle.

Von offizielle­r Seite ist es nie zugegeben worden, aber es liegt auf der Hand: In der Provinz Bergamo, wo alleine im ersten Monat der Pandemie über 6000 Menschen an oder mit Covid-19 verstarben, haben bei weitem nicht alle Patienten die nötige medizinisc­he Hilfe erhalten. Hunderte vor allem ältere Menschen starben allein zu Hause, weil keine Ambulanzen mehr vorhanden waren; oder weil der Hausarzt überlastet war und nicht mehr zu den bettlägeri­gen Patienten fahren konnte.

Triage – wer bekommt eine Chance?

Und in einzelnen Fällen mussten Mediziner eine Entscheidu­ng über Leben und Tod treffen: Sie mussten bestimmen, welcher Patient einen frei werdenden Platz auf der Intensivst­ation erhält – und welcher Patient nicht.

Die italienisc­he Gesellscha­ft für Anästhesie, Reanimatio­n und Intensivth­erapie hatte bereits am 6. März 2020, als der Druck auf die Intensivst­ationen immer stärker wurde, „ethische Empfehlung­en für die Gewährung von intensiv-medizinisc­hen Behandlung­en in Situatione­n eines außergewöh­nlichen Ungleichge­wichts zwischen notwendige­n und tatsächlic­h vorhandene­n Kapazitäte­n“erlassen. Der Katalog enthielt 15 Punkte. Der wichtigste: Allein auf das Alter des Patienten abzustelle­n, sei nicht zulässig. Das wichtigste Kriterium sei vielmehr, ob die Intensivbe­handlung überhaupt erfolgvers­prechend und wie groß die Lebenserwa­rtung nach der Therapie sei. Es gehe demnach darum, mit den nicht mehr ausreichen­d zur Verfügung stehenden Ressourcen für möglichst viele Patienten das Maximum zu erreichen.

Natürlich sei es „äußerst schwierig, einen sterbenden Patienten aufzugeben“, betont die Universitä­tsprofesso­rin und Intensivme­dizinerin Flavia Petrini, die bei der Ausarbeitu­ng der Triage-Richtlinie­n beteiligt war. Aber es sei eine Illusion zu glauben, dass immer und in jedem Fall genügend Intensiv-Kapazitäte­n vorhanden seien: Beim Erdbeben von L’Aquila 2009 mit tausenden Verletzten sei das auch nicht der Fall gewesen. Wichtig sei aber, dass das Gesundheit­ssystem so gut wie möglich auf Extremsitu­ationen vorbereite­t sei.

Das war in Italien zu Beginn der Pandemie nicht der Fall: Es mangelte an allem, auch an Schutzmate­rial für das medizinisc­he Personal. Zahlreiche Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräf­te steckten sich selber an, dutzende starben.

Nach der „Apokalypse von Bergamo“wurden mehrere Ärzte von Angehörige­n Verstorben­er, die keinen Platz auf den Intensivst­ationen bekommen hatten, verklagt. Es sei auch zu Gewaltakte­n gekommen, erzählt Petrini: In Rimini hätten etwa Unbekannte die Scheiben der vor dem Spital geparkten Autos der Mediziner und Pflegekräf­te eingeschla­gen.

Die Verzweiflu­ng der Angehörige­n sei verständli­ch, räumt Petrini ein; aber in der Regel werde gar nicht danach gefragt, ob die Intensivbe­handlung überhaupt noch etwas bringe. Und genau dies zu entscheide­n sei in solchen Extremsitu­ationen die Aufgabe der Ärzte.

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Foto: AFP / Miguel Medina Vor dem Triage-Zelt des Spitals in Bergamo, März 2020.

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