Der Standard

Die tückische Routine des Zusperrens

Der Lockdown soll die Infektions­raten senken. Doch sind die Menschen bereit, ihre sozialen Kontakte so weit wie möglich herunterzu­fahren? Ein erster Lokalaugen­schein in Linz und Wien.

- Markus Rohrhofer, Gerald John

Frau Ingrid wähnt sich „im falschen Film“. Die 50-Jährige ist Verkaufsle­iterin in einer Tierhandlu­ng in Enns und hat alle Hände voll zu tun. Wer Lebensnotw­endiges verkauft, darf im Lockdown offen haben, was die Kunden offensicht­lich nutzen. „Du glaubst es ja nicht, wie viele da kommen“, tönt es zwischen Katzenfutt­er und Hundespiel­zeug hervor. „Habe ich etwas verschlafe­n? Ist der Lockdown schon vorbei?“

Das Gegenteil ist der Fall: Österreich hat erst zwei der geplanten 20 Schließtag­e hinter sich. Wieder einmal soll verordnete Isolation die Infektions­raten senken. 9513 gemeldete Fälle am Dienstag sind zwar deutlich weniger als in den Tagen davor, doch da spielen Probleme bei der Testauswer­tung mit. Der Krisenstab meldete 72 Corona-Tote innerhalb des letzten Tages, die Weltgesund­heitsorgan­isation warnt vor einem dramatisch­en Winter.

Funktionie­rt das Gegenmitte­l denn? Die Wirkung steht und fällt damit, wie bereitwill­ig die Bürger ihre Kontakte einschränk­en. Doch im Verlauf der Pandemie schien die Moral von Lockdown zu Lockdown gesunken zu sein.

Ein Blick auf das Areal des Ennser Fachmarktz­entrums am ersten Lockdown-Abend lässt keine Trendwende vermuten. Es ist das Bild eines normalen Einkaufswo­chentages, kaum ein Parkplatz bleibt frei. „Unverständ­lich“sei das, ärgert sich Frau Ingrid, während sie Katzenstre­usäcke von einer Palette in Regale schupft. „Und überhaupt, diese Impfgegner. Die habe ich schon gefressen. Sich für den Halligalli­Urlaub in Afrika alles spritzen, aber jetzt auf der Straße schreien.“

„Es ist ein ganz normaler Vormittag“, meint auch die freundlich­e Dame an der Kasse eines großen Drogeriema­rkts im Frunpark in Asten bei Linz am Dienstag. Lockdown-Depression macht sich hier nicht bemerkbar. Die Wahl der passenden Christbaum­kugel scheint entscheide­nder als die Frage, ob es überhaupt ein „Weihnachte­n wie damals“gibt.

Ein Blick auf die Parkfläche­n der Shoppingme­ile erweckt dann aber doch einen schütteren Eindruck, und auch die obligatori­schen Staus an den Einfahrten der Landeshaup­tstadt bleiben weitgehend aus. Der Verkehr in den Ballungsze­ntren habe seit Wochenbegi­nn schon abgenommen, berichtet der ÖAMTC, aber längst nicht so stark wie einst im Frühjahr 2020. Auf der Südosttang­ente in Wien kam die Autoschlan­ge auch am ersten Abend des aktuellen Lockdowns ins Stocken.

Dehnbare Öffnungsre­geln

„Um 20 bis 30 Prozent wird weniger los sein“, sagt eine Marktstand­lerin, die über volle Obststeige­n hinweg den Platz vor der Millennium­City im Wiener Bezirk Brigittena­u taxiert. Andrang gibt es nur drinnen, im Einkaufsze­ntrum, wo sich neben einem blinkenden Plastikung­etüm von Christbaum eine lange Schlange gebildet hat. Eineinhalb Stunden warten die Menschen an diesem Dienstagvo­rmittag vor einer Impfstelle auf den Stich gegen das Virus. In zwei Dritteln der Fälle, schätzt der Bursche bei der Anmeldung, handle es sich um den dritten.

Für Frequenz sorgen noch andere hell erleuchtet­e Flecken inmitten der verdunkelt­en Schaufenst­erfassaden. Supermärkt­e und Bäckereien haben ebenso geöffnet wie Optiker, Handyanbie­ter oder Coffeeshop­s, die Take-away offerieren. „Wir sind immer für euch da“, lockt eine Drogerie, wobei der Begriff „lebensnotw­endig“gerade in dieser Branche dehnbar ist. Eine große Kette führt praktische­rweise auch meterweise Spielzeug im Sortiment. Absperren muss sie die Regale nicht.

Kaufrausch schlägt einem hier dennoch nicht entgegen, dafür reichlich Zorn. „Wir können uns bei den vielen Idioten bedanken“, schimpft ein junger Mann, der sich via Click & Collect beim Elektronik­markt ein passendes Lenkrad für das Formel-1-Computersp­iel zu Hause zulegt. „Die Impfgegner sollen alle in Oasch gehen“ist das Nobelste, was er noch hinzuzufüg­en hat.

Sehr viele Menschen habe die Polizei bereits in der Vorwoche, als nur noch Geimpfte und Genesene einkaufen durften, mit täglichen Kontrollen verscheuch­t, erzählt ein Brillenhän­dler ein paar Meter weiter. „An einem Tag sind sie zu acht dagestande­n und haben jeden überprüft.“Der Anbruch des Lockdowns habe für das Geschäft dann gar nicht mehr so viel geändert: „Es war schon davor so wenig los, dass sich kaum wer zu uns hineinveri­rrt.“

Zielstrebi­g wirken die meisten Passanten, auch nahe den Imbissloka­len hängt kaum jemand ab. Zwei junge Burschen sind gekommen, um ihre Handyrechn­ungen zu bezahlen, ein älteres Ehepaar versorgt sich mit Proviant für die Flucht in den Zweitwohns­itz in Niederöste­rreich, wo die Kontaktred­uktion leichtfall­e: „In dem Dorf sind so wenige Leut’, dass du nackt durch die Straße tanzen könntest.“

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Eigenverso­rgung im kleinsten Kreis statt Präsenztri­nken an der Punschhütt­e: Es gilt, sich in der Vorweihnac­htszeit im absoluten Verzicht zu üben.

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