„Ein Weg mit offenem Handel wäre möglich gewesen“
Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr ist für offene Schulen und offenen Handel: Zwar sei in Salzburg und Oberösterreich ein genereller Lockdown nötig – in anderen Regionen hätten dem Neos-Politiker sanftere Maßnahmen mit Kontaktbeschränkungen gere
Mitten im Lockdown hat die rot-pinke Koalition in Wien 2020 ihre Arbeit aufgenommen. Damals, das erklärten Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und dessen Vize, Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos), am Dienstag, habe man nicht vermutet, dass man das einjährige Jubiläum wieder in einem solchen verbringen werde. Der Unterschied: Die Schulen haben diesmal geöffnet.
Trotz weitgehender rot-pinker Einigkeit im Kampf gegen die CoronaPandemie: Den harten Lockdown in Wien, das derzeit das Bundesland mit der niedrigsten Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner ist, stellt Wiederkehr im STANDARDInterview infrage.
STANDARD: Neos-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger spricht sich gegen einen generellen Lockdown in Österreich aus. Teilen Sie diese Meinung? Wiederkehr: Es braucht massive Kontaktbeschränkungen. Die Situation in Oberösterreich und Salzburg macht einen Lockdown notwendig. Für andere Regionen wäre ein Weg mit offenem Handel samt 2G und Maskenpflicht möglich gewesen.
STANDARD: Haben Sie sich beim Bürgermeister dafür eingesetzt, dass der Handel in Wien offen bleiben soll? Wiederkehr: Mein oberstes Ziel sind offene Schulen und Präsenzunterricht, das ist für die psychosoziale Gesundheit wichtig. Wir sehen eine hohe Zahl Jugendlicher mit psychischen Problemen – Begleiterscheinungen vergangener Lockdowns.
STANDARD: Trotz Präsenzunterrichts rufen Regierung und einige Landeshauptleute zum Daheimbleiben auf. Widerspricht sich das nicht? Wiederkehr: Die Art der Kommunikation brachte große Verwirrung. Damit war ich sehr unzufrieden. Ich habe in Wien klargemacht, was gilt: Präsenzunterricht für alle und die Möglichkeit, dass Schüler zu Hause bleiben können.
STANDARD: Was empfehlen Sie? Wiederkehr: Wichtig ist, dass Kinder, die Unterstützung brauchen, zur Schule gehen. Es ist aber ein individueller Entschluss – etwa wenn es Risikopatienten im Haushalt gibt.
STANDARD: In Wien waren die Klassen großteils voll. Wie wird sichergestellt, dass Daheimgebliebene keinen Nachteil haben?
Wiederkehr: Zwischen 70 und 90 Prozent gehen zur Schule. Es gibt den Appell an die Schulen, die Zeit jetzt für Lernvertiefung zu verwenden, nicht für neuen Stoff. Klassen, die lieber im Distance-Learning sind, können das in Wien machen. Der Regelfall ist aber der Präsenzunterricht. Auch, um eine Umgebung zu haben, wo Schüler Gleichaltrige treffen können. Lernen ist auch eine Frage des sozialen Aspekts, es geht nicht nur um Fachwissen.
STANDARD: Laut Bund sollen Klassen bundesweit ab dem zweiten Corona-Fall für eine Woche ins DistanceLearning gehen. Begrüßen Sie das? Wiederkehr: Die zusätzliche Flexibilität ist sinnvoll. Also ja.
STANDARD: Wenn 90 Prozent in der Schule sind: Was spricht gegen Tests und Schularbeiten?
Wiederkehr: Wir müssen Lerndruck herausnehmen. Es ist nicht die Zeit von harten Prüfungen oder Schularbeiten. Gerade dann nicht, wenn einzelne Kinder in der Klasse zu Hause bleiben. Kinder mit Lernschwäche sollen jetzt nicht zurückbleiben. Nach dem Lockdown kann ab 13. Dezember Unterricht hoffentlich wieder normal stattfinden.
STANDARD: Die Sechs- bis 14-Jährigen haben die höchste Inzidenz Österreichs. Ist das Risiko, dass sich Schüler anstecken, vernachlässigbar? Wiederkehr: Die Schule ist Teil der Lösung der Pandemiebekämpfung. Es gibt keine Bevölkerungsgruppe, die so oft und regelmäßig getestet wird, um Infektionsketten zu durchbrechen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich Kinder und Jugendliche bei geschlossenen Schulen nicht mehr treffen würden. Wir könnten sie dann aber nicht testen.
STANDARD: Zwei von drei Schultests pro Woche sind in Wien PCR-Tests. Wieso stellt Wien nicht vollständig auf PCR-Tests um?
Wiederkehr: Es gibt in vielen Schulen bereits die Möglichkeit zu drei PCR-Tests pro Woche. Das wollen wir weiter ausrollen. Wir arbeiten daran, dass das der Normalfall wird.
STANDARD: Wien hat soeben 50.000 Termine für die Kinderimpfung freigeschaltet. Empfehlen Sie, Kinder unter zwölf Jahren zu impfen?
Wiederkehr: Die Vorteile der Impfung überwiegen die Nachteile. Es gibt bewusst keine Empfehlung von uns, solange es keine EMA-Zulassung gibt. Die Nachfrage ist groß, die Termine sind gut gebucht.
STANDARD: Über zwölf ist die Impfung freigegeben, wie wollen Sie ältere Schüler zur Impfung bewegen? Wiederkehr: Wir haben seit Schulbeginn intensive Schwerpunktaktionen an Standorten gehabt – etwa an Berufsschulen. Diese werden gut angenommen. Wir haben die Termine an den Schulen auch für die Angehörigen freigegeben, Schüler können ihre Familie mitnehmen.
STANDARD: Zuletzt wurden in Wien 870 Schülerinnen und Schüler von der
Schule abgemeldet – auch aufgrund der Corona-Maßnahmen. Wie viele sind mittlerweile wieder zurück an der Schule?
Wiederkehr: Die Zahl ist problematisch und besorgniserregend. Nicht alle Eltern, die ihre Kinder von der Schule abmelden, haben die Fähigkeit, ihre Kinder von zu Hause aus zu unterrichten. Wir haben darum aktiv mit den Eltern Kontakt aufgenommen. Viele wissen etwa nicht, dass das Bilden von Lerngruppen in Österreich verboten ist. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass sehr viele – rund 400 – Kinder wieder an der Schule sind.