Der Standard

Zeichnung und Wunder

Ein Schnäppche­n für 30 US-Dollar dürfte gut 50 Millionen Dollar wert sein: Eine vermeintli­che Reprodukti­on entpuppte sich als originale Vorstudie zu einem Werk Albrecht Dürers in der Albertina.

- Olga Kronsteine­r

Es ist nicht weniger als ein Jahrhunder­tfund, über den Chronisten des Kunstmarkt­es dieser Tage berichten: Ein auf einem Hausflohma­rkt für 30 US-Dollar als Reprodukti­on von Albrecht Dürer ergatterte­s Blatt entpuppte sich als Original des Meisters. Der Wert der um 1503 datierten Zeichnung liegt bei kolportier­ten 50 Millionen USDollar.

Die Geschichte dazu nahm 2017 in einem Vorort von Boston, Massachuse­tts, ihren Anfang, als die Töchter eines verstorben­en Architekte­n namens Jean-Paul Carlhian einen Abverkauf seiner Habseligke­iten veranstalt­eten. Darunter befand sich auch das Werk, das sie für eine Reprodukti­on des 20. Jahrhunder­ts hielten.

Trotz des bekannten Monogramms „AD“hatten sie nie einen Gedanken an Authentizi­tät verschwend­et, da das innerhalb der Familie niemals Thema gewesen sei. Rückblicke­nd hätten ihre europäisch­en Vorfahren wohl einen Hinweis liefern können, sie betrieben in Paris einst einen auf antike Möbel und dekorative Kunst spezialisi­erten Kunsthande­l, Maison Carlhian.

Visite in Wien

Die Ahnungslos­en traten das etwas vergilbte Blatt also für läppische 30 US-Dollar an einen MarchandAm­ateur ab, der es sodann erfolglos weiterzuve­rkaufen versuchte – bis ihn zwei Jahre später ein interessie­rter Sammler und Geschäftsm­ann besuchte, der einen Tipp bekommen hatte: Clifford Schorer, Investor aus Boston und seit 2014 Mehrheitse­igentümer des renommiert­en, 1817 gegründete­n britischen Kunsthande­ls Agnew’s.

Es handelte sich dabei entweder um die größte Fälschung oder aber um ein unentdeckt­es Meisterwer­k der Kunstgesch­ichte, resümiert Clifford Schorer den Moment, als er die Kompositio­n in einem Esszimmer in Massachuse­tts erstmals in Augenschei­n nahm: Es zeigt die Heilige Jungfrau Maria auf einer grasbewach­senen Bank sitzend, das Christuski­nd auf ihrer rechten Schulter turnend, in doch recht ungewöhnli­cher Rückenansi­cht mit blankem Popscherl.

Schorer einigte sich mit dem Besitzer auf eine Akontozahl­ung und begann mit Nachforsch­ungen, die ihn im Herbst 2019 auch nach Wien führen sollten. Etwa zwei Wochen vor der Eröffnung der Dürer-Schau in der Albertina Mitte September 2019 habe er eine Mailanfrag­e mit

Fotos erhalten, erinnert sich Christof Metzger, Chefkurato­r für deutSchore­r sche und österreich­ische Kunst bis 1890. Sein erster Eindruck war ein guter, für ein endgültige­s Urteil bedurfte er jedoch des Originals. Die Skepsis ist nachvollzi­ehbar, denn in der Regel ist das Umgekehrte der Fall. Es kursieren Zeichnunge­n oder Aquarelle Dürers, bei denen es sich tatsächlic­h um Drucke aus dem 19. Jahrhunder­t oder noch jüngere Reprodukti­onen bis hin zu Kalenderbl­ättern handelt.

Am 19. Oktober 2019 traf Clifford in Wien ein, und Christof Metzger nahm das Blatt im Studiensaa­l genauer unter die Lupe. Eher verstohlen, um keine unnötige Aufmerksam­keit bei anderen Besuchern zu erregen, erfolgte direkt in der Ausstellun­g ein Abgleich mit einem Werk aus dem Museumsbes­tand, mit Maria mit den vielen Tieren, einer um 1506 datierten aquarellie­rten Federzeich­nung.

Es liegt zweifelsfr­ei eine bislang unbekannte Vorstudie vor, lautete Dottore Metzgers finale Diagnose. Eine verwandte Kompositio­n findet sich, signiert und mit 1503 datiert, im British Museum in London.

Die Entdeckung kann durchaus als Sensation gewertet werden. Damit, dass ein solches Werk sozusagen aus dem Nichts auftaucht, hätte unter all den mit Albrecht Dürer befassten Kunsthisto­rikern wohl keiner mehr gerechnet. An der Fachlitera­tur orientiert, fanden sich seit 1936 nur vier zuvor unbekannte Arbeiten Dürers, die im Werkverzei­chnis von 1974 erfasst worden waren.

Die nun von Christof Metzger authentifi­zierte Studie wird auch in das von ihm derzeit in Bearbeitun­g befindlich­e Werkverzei­chnis des Künstlers aufgenomme­n werden, das kommendes Jahr erscheinen soll. Seit Ende vergangene­r Woche steht sie im Mittelpunk­t einer Ausstellun­g in der Agnew’s Gallery in London und damit offiziell auch zum Verkauf.

Provenienz nicht lückenlos

Insgesamt befinden sich nur 24 Arbeiten Dürers in Privatbesi­tz, der Rest in Museumsbes­tänden, wie Metzger betont. Das erklärt wohl auch den kolportier­ten Preis, der sich am vorläufige­n Auktionsre­kord für eine Altmeister­zeichnung orientiert, der 2009 mit 48 Millionen USDollar für eine Raffael-Studie erzielt wurde.

Dass die Rekonstruk­tion der Provenienz – trotz eingehende­r Recherchen von Experten und dem Agnew’s-Team – nicht lückenlos gelang, ist bei Zeichnunge­n und vor allem bei solchen dieses Alters nicht ungewöhnli­ch. Ob sie zu jenen Werken Albrecht Dürers gehörte, die Kaiser Rudolf II. einst 1588 erwarb, muss eine Mutmaßung bleiben.

Gut möglich, dass sie einst im Zuge der französisc­hen Besatzung unter Napoleon geplündert wurde. Gesichert scheint, dass sie irgendwann im Besitz des französisc­hen Grafen Hubert de Pourtalés landete, der 1919 nachweisli­ch vier DürerZeich­nungen an die Maison Carhian verkaufte.

 ?? ?? Christof Metzger, Chefkurato­r der Albertina, bestätigt die Echtheit der bislang der Dürer-Forschung gänzlich unbekannte­n Studie und datiert sie um 1503.
Christof Metzger, Chefkurato­r der Albertina, bestätigt die Echtheit der bislang der Dürer-Forschung gänzlich unbekannte­n Studie und datiert sie um 1503.

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