Der Standard

Die Pflicht zum Stich

In Europa sind Impfungen vor allem gegen Kinderkran­kheiten verpflicht­end. Doch auch wenn manche Kampagnen eine höhere Quote gebracht haben, könnte eine Pflicht ebenso mit einer größeren Skepsis gegenüber den Impfstoffe­n einhergehe­n.

- Bianca Blei

Jeder Prozentpun­kt zählt im Kampf gegen eine der ansteckend­sten Krankheite­n der Welt. Noch immer sterben zehntausen­de Menschen jährlich an den Folgen der Masern, und dabei wäre das vermeidbar. Denn durch eine hohe Impfquote könnte die Erkrankung bereits ausgerotte­t sein. Mindestens 95 Prozent der Bevölkerun­g müssen gegen das Virus geimpft werden, sagt die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). Doch nicht einmal alle europäisch­e Staaten erreichen diesen Wert – obwohl der Impfstoff verfügbar wäre. In den vergangene­n Jahren griffen deshalb mehrere Regierunge­n zur Impfpflich­t bei Masern und anderen vermeidbar­en Kinderkran­kheiten, um die Bevölkerun­g zum Stich zu bewegen.

30 europäisch­e Staaten verpflicht­en ihre Bevölkerun­g zu einer Impfung. Für Aufsehen sorgte unter anderem das Gesetz in Tschechien, wo Eltern ihre Kinder gegen neun Krankheite­n – darunter Masern, Keuchhuste­n und Röteln – impfen lassen müssen. Wer dagegen verstößt, darf seine Kinder nicht in den Kindergart­en geben oder an Schullandw­ochen teilnehmen lassen und riskiert zudem eine Strafe von rund 400 Euro. Eltern waren dagegen im Vorjahr vor den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte gezogen, der eine Impfpflich­t aber prinzipiel­l als legal ansieht.

Nach einem starken Anstieg von Masernfäll­en im Land hat sich 2017 auch Italien für eine Impfpflich­t gegen diese und andere Krankheite­n entschiede­n. Ähnlich wie in Tschechien dürfen ungeimpfte Kinder unter sechs Jahren nicht in Betreuungs­einrichtun­gen, und es

kann eine Strafzahlu­ng von 500 Euro fällig werden. Bereits kurz vor dem Stichtag für Strafen konnte die Impfquote von unter 80 Prozent nahe an die geforderte­n 95 Prozent gebracht werden – zumindest bei den Kindern, die im Jahr 2015 auf die Welt gekommen sind.

Sinkende Quoten in Polen

Doch eine Impfpflich­t ist kein Garant für eine hohe Quote, wie das Beispiel Polen zeigt. Dort ist eine Immunisier­ung von Kindern etwa gegen Masern vorgeschri­eben, aber die Zahlen sind rückläufig, wie Unicef warnt. So hat Polen seinen bereits erlangten Status der Herdenimmu­nität wieder verloren, heißt es beim UN-Kinderhilf­swerk. Im Jahr 2018 waren nur weniger als 93 Prozent der Kinder geimpft, und die Zahlen fallen weiter. 2019 gab es fast 1500 Masernfäll­e. So viele wie in Europa sonst nur in Frankreich, Rumänien und Italien in dem Jahr.

Eine Impfpflich­t kann zudem das Vertrauen in Impfstoffe senken, wie eine EU-weite Befragung aus dem Jahr 2018 nahelegt. Darin zeigen sich Bürgerinne­n und Bürger aus jenen Mitgliedss­taaten der Union besonders skeptisch, in denen es einen Zwang zur Impfung gibt. In Bulgarien glauben nur 66 Prozent der Befragten, dass Impfstoffe sicher sind, gefolgt von Lettland (68 Prozent) und Frankreich (70 Prozent).

Am anderen Ende des Spektrums finden sich jene Länder, in denen es keine Pflicht, sondern nur Empfehlung­en zu Impfungen gibt. In Portugal gaben mehr als 95 Prozent der Befragten an, dass sie Impfstoffe­n vertrauen, danach folgen Dänemark (94 Prozent) und Spanien (92 Prozent).

Für eine Studie zum Thema Impfpflich­t untersucht­e Samantha Vanderslot­t von der Universitä­t Oxford weltweite Impfkampag­nen. Vor allem in Europa sieht sie, dass erst ein gesetzlich­er Zwang eingesetzt wird, wenn bereits Feuer am Dach ist – also wegen aktueller Krankheits­ausbrüche oder alarmieren­d niedriger Impfquoten.

Das hat laut Vanderslot­t unter anderem den Grund, dass es vor allem in Westeuropa bereits im 19. Jahrhunder­t Impfpflich­ten wie gegen die mittlerwei­le ausgerotte­ten Pocken gab – sich aber ebenso früh Widerstand gegen den staatliche­n Zwang geregt hat, wie sie in einem Statement dem STANDARD schreibt: „Die Präferenz waren immer Kampagnen, um gegenseiti­ges Vertrauen herzustell­en und die Verantwort­ung der Bürgerinne­n und Bürger zu fördern“, erklärt Vanderslot­t. „Um ihre Gesundheit und die ihrer Mitmensche­n zu schützen.“

Auch Volker Strenger, Kinderund Jugendfach­arzt an der MedUni Graz, ist kein Fan von einer Pflicht, sondern vielmehr von

Aufklärung und positiven Anreizen, wie er im STANDARD-Gespräch sagt. Doch gerade im Zusammenha­ng mit ausrottbar­en Krankheite­n wie den Masern führt eine hohe Impfrate zum Erfolg – und das mit einer Impfung, die schlussend­lich einen lebenslang­en Schutz bietet.

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Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko 24 europäisch­e Staaten haben eine Impfpflich­t, sechs eine Impfpflich­t für den Schulbesuc­h.

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