Der Standard

Unter anderen Umständen

Seit zwanzig Jahren haben Schwangere in Österreich die Möglichkei­t einer anonymen Geburt. Sie bringen ihr Kind im Spital zur Welt, ohne ihren Namen anzugeben. Was führt zu dieser Entscheidu­ng?

- Lisa Breit

Manche Frauen sind reserviert, wollen sich vor ihren eigenen Gefühlen schützen. Sie wollen das Baby nicht sehen und nicht wissen, wie schwer und wie groß es ist. Andere sind während der Geburt redselig, wollen das Kind zu sich nehmen, oft auch für ein paar Stunden, und sich von ihm verabschie­den. Sie haben auch schon über einen Namen für das Kind nachgedach­t. „Am besten ist es, sich vorher zu überlegen, wie man es haben möchte – auch wenn es bei der Geburt dann ganz anders sein kann“, sagt Gerhild Krenn-Gugl.

Sie ist Psychologi­n in einem Beratungsz­entrum der Caritas, einer Anlaufstel­le für Schwangere, die sich in einer Notsituati­on befinden und in der anonymen Geburt einen Ausweg sehen. Anonyme Geburt, das bedeutet, dass eine Frau ein Kind ohne Angabe ihrer Personalie­n in einem Spital auf die Welt bringen kann. Weder die Hebamme noch die Ärztinnen und Ärzte kennen ihren echten Namen. Nach der Geburt wird das Baby meist zur Adoption freigegebe­n. Seit zwanzig Jahren haben Frauen hierzuland­e diese Möglichkei­t. Rund 30 solcher anonymen Geburten gibt es pro Jahr in Österreich.

„Es ist eine Entscheidu­ng, die immer aus Liebe zum Kind getroffen wird“, sagt Krenn-Gugl. Sie spricht von einem hohen Verantwort­ungsbewuss­tsein der Frauen, die anonym gebären. Davon, dass für sie das Wohlergehe­n des Kindes absolute Priorität hat. Die Frauen würden sich wünschen, dass ihr Kind behütet aufwächst – bezweifeln aber, dass sie ihm das selbst bieten können. Die einen haben einen gewalttäti­gen Partner, andere trennen sich gerade und haben die Aussicht, alleinerzi­ehend zu sein, was sie sich nicht zutrauen. Wieder andere haben Geldproble­me.

Aus allen Schichten

Die Frauen, die anonym gebären, unterschei­den sich kaum von allen anderen, die ungeplant schwanger sind. Sie sind sehr jung oder schon älter, single oder verheirate­t, kommen aus den unterschie­dlichsten sozialen Schichten. „Der Mythos, dass es vor allem Teenagermü­tter sind, die keinen Plan vom Leben haben, ist also falsch.“Zwei Drittel der Frauen hätten bereits Kinder. „Sie wissen, was Elternsein bedeutet, und haben die Sorge, dass sie ein weiteres Kind überforder­t. Ihnen ist es wichtig, gut für die Kinder zu sorgen, die schon da sind.“Krenn-Gugl hat bereits Frauen beraten, die fest entschloss­en waren, das Kind „freizugebe­n“– und die sich in letzter Minute anders entschiede­n haben. Aber auch solche, die „zaghaft und ambivalent waren, aber das dann ganz klar entschiede­n haben“.

Die Schwangers­chaften, die zu einer anonymen Geburt führen, würden typischerw­eise erst spät erkannt. Oft erst nach dem fünften Monat, wo ein Abbruch längst nicht mehr legal ist. „Die Entscheidu­ng lautet dann nur noch: Ist ein Leben mit dem Kind vorstellba­r oder nicht?“, sagt Krenn-Gugl. Die Psychologi­n spricht von einem „verspätete­n Schwangers­chaftskonf­likt“.

Manchmal werde eine ungewollte Schwangers­chaft auch verdrängt, bis ganz zum Schluss. Bis die Bauchschme­rzen so stark sind, dass die Frau ins Krankenhau­s muss. Häufig sei diesen Frauen gar nicht anzusehen, dass sie schwanger sind. „Es ist erstaunlic­h, wie klein ein Babybauch sein kann“, sagt Krenn-Gugl. Es könne aber auch sein, dass sich die Schwangere niemandem anvertraut, weil sie fürchtet, verurteilt zu werden. Sie zieht sich zurück, hüllt sich in Pullover in Übergröße.

Krenn-Gugl sagt den werdenden Müttern, welche Sozialleis­tungen und Unterstütz­ung ihnen zustehen. Sie informiert sie aber auch über die Möglichkei­t, das Kind freizugebe­n. „Ich zeige verschiede­ne Wege auf.“

Weniger Neonatizid­e

Die Legalisier­ung der anonymen Geburt war mit der Hoffnung verbunden, die Tötung von Neugeboren­en zu vermindern. Laut der Psychiater­in Claudia Klier, die zu dem Thema forscht, ist das auch gelungen. Die Zahl der Neonatizid­e habe sich nach 2001 „signifikan­t verringert“, wie die Expertin feststellt­e.

Ein weiteres Angebot für Mütter, die ihr Kind anonym abgeben möchten, sind die Babyklappe­n. Derzeit gibt es österreich­weit 15 davon. Im Vorjahr wurden vier Neugeboren­e in diesen Klappen abgegeben. Weit sicherer ist allerdings die anonyme Geburt: Eine Schwangere kann alle Vorsorgeun­tersuchung­en machen, bei der Geburt ist sie nicht allein.

Rational und gefasst

Alina Haller ist Hebamme und rät unbedingt dazu, sich Hilfe zu holen. Sie hat bereits zwei anonym Gebärende betreut. Wo Haller arbeitet, soll nicht in der Zeitung stehen, und auch ihren echten Namen will sie nicht verraten – um die Frauen zu schützen. Beide hätten erst durch die Wehen von ihrer Schwangers­chaft erfahren, sagt Haller. Sie kamen allein ins Spital, „waren aber rational und gefasst“. Sie habe das als Selbstschu­tz wahrgenomm­en. Über die Beweggründ­e der Frauen hält sich die Hebamme bedeckt, nur so viel: Beide waren in Situatione­n, in denen ein Kind keinesfall­s aufwachsen sollte. Sie entschiede­n sich also nicht dafür, weil sie kein Kind möchten, sondern weil sie sich für das Kind die bestmöglic­hen Chancen wünschen. Und sie wussten, dass andere das zu diesem Zeitpunkt besser schaffen als sie selbst. Dafür nahmen sie sogar ein kleines emotionale­s Trauma in Kauf.“

Eine der Frauen betreute Haller im Wochenbett, die andere bei der Entbindung. Dass sie anonym gebären wird, war erst klar, als die Schwangere im Türrahmen stand. „Ihr war es sehr wichtig, dass wir nichts sagen dürfen, wenn jemand anruft. Wir dürfen das sowieso nicht, aber sie hat das öfter betont.“

Eine anonyme Geburt laufe genauso ab wie jede andere Geburt. Mit einer Ausnahme: Der typische Smalltalk mit den Eltern fällt weg. Die Hebamme fragt nicht, wie die Schwangers­chaft verlaufen ist, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist oder es Geschwiste­r gibt. „Ich habe mich auf das Wesentlich­e beschränkt: wie es weitergeht. Damit die Frauen ein Gefühl der Kontrolle behalten.“Und nicht die Mutter habe das Neugeboren­e zu sich genommen, sondern die Hebammen.

Nach der Geburt vermittelt die Kinder- und Jugendhilf­e das Kind an Adoptivelt­ern. Sie hegen meist schon lange einen Kinderwuns­ch und wurden in einem Seminar auf die Adoption vorbereite­t. Die leibliche Mutter hat sechs Monate Zeit, sich umzuentsch­eiden und das Kind doch zu sich zu holen. Das passiert offenbar aber höchst selten.

Die Frauen bekommen einen Fußabdruck, falls sie das möchten. Sie haben die Möglichkei­t, dem Kind ein Kuscheltie­r zu hinterlass­en und einen Brief zu schreiben. Ist das Kind volljährig, kann es sich den Umschlag abholen. „Für die Kinder ist es wichtig zu wissen: Wie war das damals?“, sagt Haller. Möchte die Frau nichts schreiben, kann es das Krankenhau­spersonal übernehmen. Haller hat damals ein paar Zeilen formuliert. An ihre Schlusswor­te erinnert sie sich noch gut: „Sei laut, frech und mutig.“Denn die Babys hätten nicht laut geschrien wie andere, bloß leise gewimmert.

Die Schuldgefü­hle bleiben

Die meisten Frauen, die anonym gebären, verlassen nach wenigen Stunden das Spital. Sie kehren zurück in ihr Leben, zu ihrer Familie, in ihre Arbeit. Als wäre nichts gewesen. Aber die Schuldgefü­hle bleiben, weiß Psychologi­n Krenn-Gugl. Ebenso die stetigen Gedanken an das Kind. „Das ist eine besondere Form des Muttersein­s. Wir nennen diese Mütter ,Herkunftsm­ütter‘.“

Einige Frauen, die sie beraten hat, melden sich nach der Entbindung noch einmal bei der Psychologi­n. „Anfangs sind sie meist erleichter­t. Dann kommen aber die Trauer, das Realisiere­n, was passiert ist.“Manche würden sich wünschen, regelmäßig Fotos übermittel­t zu bekommen. Aber nicht jede möchte das. „Indem sie auf Distanz gehen, schützen sie sich.“Das ändere nichts daran, dass sie nach wie vor darüber nachdenken, wie es dem Kind jetzt wohl geht. „Insbesonde­re zu speziellen Terminen wie seinem Geburtstag oder zu Weihnachte­n. Sie fragen sich: Wie groß ist es? Ist es auch so sportlich wie ich? Oder: Hat es auch die Liebe zur Musik entdeckt?“Es seien ganz alltäglich­e Themen, die die Herkunftsm­ütter beschäftig­en. „Und das hört auch nicht auf.“

 ?? ?? Frauen, die anonym gebären, verlassen meist schon nach wenigen Stunden das Spital und kehren zurück in ihr Leben. Die Gedanken an das Kind bleiben.
Frauen, die anonym gebären, verlassen meist schon nach wenigen Stunden das Spital und kehren zurück in ihr Leben. Die Gedanken an das Kind bleiben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria