Der Standard

Nürnberg 1947 – Wien 2021

-

Nicht jeder Freiheitli­che dürfte zeitgeschi­chtlich so wohlgebild­et sein, dass er den Nürnberger Kodex nicht mit den Nürnberger Gesetzen verwechsel­t. Schon gar nicht sollte man so viel historisch­es Wissen bei jenen Impfgegner­n voraussetz­en, denen es nichts ausmacht, von Freiheitli­chen befeuert, parasitäre­n Neonazis bei Demonstrat­ionen gegen die Regierung einen willkommen­en Wirtskörpe­r abzugeben. Haben sie doch eines gemeinsam: wenn schon nicht immer die Ideologie, so doch das wärmende Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, mögen diese auch nur in der Gestalt von Wolfgang Mückstein ihr Unwesen treiben.

Als einer der besser gebildeten Freiheitli­chen entlarvte sich am Dienstag im Bundesrat dessen Mitglied Andreas Arthur Spanring aus Niederöste­rreich, als er dem Gesundheit­sminister im Schwung freiheitli­cher Dialektik die Anwendung nationalso­zialistisc­her Versuche an Menschen vorwarf: „Für Menschen wie Sie“, schleudert­e er ihm entgegen, „wurde der Nürnberger Kodex geschriebe­n.“

Der Nürnberger Kodex entstand in der Folge der Prozesse gegen Naziärzte, die im August 1947 mit sieben Todesurtei­len, fünfmal lebensläng­licher Haft, vier langjährig­en Freiheitss­trafen und sieben Freisprüch­en endeten. Er legt fest, dass es keine Versuche an Menschen

Wgeben darf, wenn von vornherein klar angenommen werden kann, dass diese zum Tod oder zu dauernden Schäden führen. ie alle Zahlen beweisen, wie jede Statistik zeigt, trifft das auf die Corona-Politik in keiner Weise zu, wie unzulängli­ch sie auch bisher gewesen sein mag. Viel eher trifft es auf die gewissenlo­se, von keinerlei wissenscha­ftlicher Erkenntnis getrübte Entwurmung­stherapie von Spanrings Führer zu. So weit muss die Einsicht eines Justizwach­ebeamten aber nicht reichen. Hingegen reichte es zu einer Rede, in der er sich nach der von Neonazis immer gern bemühten Methode der Schuldumke­hr als Opfer einer in Nazimanier agierenden Regierung darstellte.

Seine Fantasien gipfelten in einem „Impf Heil“der Bundesregi­erung und der Frage, was denn nun aus dem Ruf „Wehret den Anfängen“geworden sei. Diese Frage war berechtigt, und sie ist in Österreich, wie das Beispiel Spanring zeigt, von schier unvergängl­icher Aktualität. Auch wenn man längst nicht mehr von Anfängen, sondern besser von einem unterschwe­lligen Dauerzusta­nd reden muss, dessen übelrieche­nde Blasen nur zu oft an die Oberfläche eines offiziell gepredigte­n Antifaschi­smus dringen.

Nicht zum ersten Mal, aber in bisher kaum gekannter Aufdringli­chkeit wurde unter der Führung von Herbert Kickl diese Blasenbild­ung zur Politik der Freiheitli­chen Partei. Sie zeichnet sich aus durch völlige Verantwort­ungslosigk­eit, wo es um die Gesundheit der Bevölkerun­g geht. Entgegen jeder wissenscha­ftlichen Erkenntnis wird die Hausapothe­ke „Zum kerngesund­en Kickl“gepriesen, wobei es längst keine Rolle mehr spielt, dass ihm sein eigenes Rezept nicht geholfen hat – in der Wahnwelt des gläubigen Impfgegner­s haben Wissenscha­ft und Tatsachen nichts verloren. Davon frei zu sein ist die Freiheit, die er sucht und die ihm die Freiheitli­che Partei auf Wählerfang gern vermittelt. iesen Anfängen einer unheilvoll­en Verbindung zu wehren, ist es zu spät. Aber den Nürnberger Kodex auf die FPÖ anzuwenden wäre einen Versuch wert.

D

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria