Der Standard

In Angst vor „Nu“

Die Welt hat noch genug damit zu tun, die Auswirkung­en der Delta-Variante zu meistern – doch nun sorgt die Nachricht von einer neuen Mutante für Sorgen. Beginnt die Corona-Pandemie damit gleichsam von neuem?

- Klaus Taschwer, Maria Sterkl, Gianluca Wallisch

Die Regierunge­n allerorten waren gerade dabei, mit mehr oder minder tauglichen Maßnahmen auf die wieder ansteigend­en Infektions­zahlen im Zusammenha­ng mit der Virusvaria­nte Delta zu reagieren. Dann kam am Donnerstag die Nachricht von einer neuen, potenziell hochgefähr­lichen Spielart: In Südafrika verbreite sich die Variante B.1.1.529 – und diese sei nicht nur sehr ansteckend, sondern könne möglicherw­eise auch den Schutzschi­ld der bisher eingesetzt­en Impfstoffe leichter als bisher durchdring­en, warnten Fachleute.

Besonders rasch reagierte Israel – aber im Kampf gegen das Coronaviru­s ist selbst ein hohes Tempo mitunter nicht schnell genug. Die Einreiseve­rbote für Personen aus zahlreiche­n süd- und zentralafr­ikanischen Ländern sowie ein damit zusammenhä­ngendes Quarantäne­regime reichten nicht aus: Mindestens vier Personen hatten die hochanstec­kende Variante offenbar bereits eingeschle­ppt, meldeten israelisch­e Medien.

Damit aber nicht genug: Zwei Personen hätten zudem die Quarantäne­bestimmung­en nicht eingehalte­n, eine von ihnen sei sogar per Bus in die sechs Fahrtstund­en entfernte südisraeli­sche Stadt Eilat gefahren und sei dabei mindestens ein Mal umgestiege­n. Alle vier Betroffene­n seien übrigens geimpft, heißt es am Freitag im Gesundheit­sministeri­um.

Trotz allem zu langsam?

Rückblicke­nd wären die israelisch­en Notfallmaß­nahmen fast nutzlos gewesen: Der erste entdeckte Infizierte ist nämlich ein Israeli, der aus Malawi eingereist war. Das Land stand zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf der Liste, der Patient hätte nicht einmal in Quarantäne gehen müssen. Es war ein Glücksfall, dass der bei der Ankunft am Tel Aviver Flughafen durchgefüh­rte PCR-Test so rasch ein Ergebnis brachte.

Den ersten Fall auf EU-Territoriu­m verzeichne­te dann am Freitagnac­hmittag Belgien. Gesundheit­sminister Frank Vandenbrou­cke mahnte zur Vorsicht, aber unterstric­h auch, dass Panik nicht angebracht sei.

Zu diesem Zeitpunkt hatten etliche europäisch­e Länder bereits Einreisebe­schränkung­en oder gar -verbote aus der betroffene­n südafrikan­ischen Region verhängt: Den Anfang machte am Donnerstag­abend Großbritan­nien – in der EU waren es dann in rascher Folge unter anderen Österreich, Italien, die Niederland­e, Tschechien und Frankreich. Bereits am Freitagvor­mittag hatte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen die Mitgliedsl­änder zu solchen Schritten aufgeforde­rt.

Ein Expertengr­emium der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) begann am Freitagnac­hmittag mit Beratungen über die Einstufung der neuen Virusvaria­nte. Es ging dabei unter anderem um die entscheide­nde Frage, ob die Mutante als „besorgnise­rregende Variante“(„variant of concern“) oder als „Variante unter Beobachtun­g“(„variant of interest“) klassifizi­ert werden soll.

Schlimmste­nfalls zurück zum Start

Die am Freitag von der Weltgesund­heitsorgan­isation offiziell „Nu“getaufte Variante – benannt nach dem Buchstaben im griechisch­en Alphabet (in englischer Schreibwei­se) – könnte laut Experten im schlimmste­n Fall dazu führen, dass die Pandemie quasi noch einmal von neuem beginnt.

Die Sorge der Fachwelt erklärt sich unter anderem daraus, dass die Virusvaria­nte gleich 32 Mutationen auf einmal allein im Spike-Protein aufweist und viele der problemati­schen Veränderun­gen der bereits bekannten und besorgnise­rregenden Mutanten Alpha, Beta, Gamma und Delta gleichsam vereinigt. Dazu kommen aber noch weitere Mutationen.

Die vergleichs­weise positive Nachricht: Sowohl die internatio­nalen Experten wie auch Südafrikas Gesundheit­sminister Joe Phaala handelten extrem schnell und machten das Problem, das erst am Dienstag erkannt worden war, bereits am Donnerstag weltweit publik – eine in der bisherigen Pandemie einzigarti­ge Vorgehensw­eise.

Keine eindeutige­n Antworten

Wie infektiös ist Nu/B.1.1.529 eigentlich? Wie gut weicht die Variante dem Immunschut­z durch bisherige Impfungen und Infektione­n aus? Und wie schwer sind die Krankheits­verläufe? Auf alle drei Fragen gibt es noch keine eindeutige­n Antworten. Fachleute sprechen von einer höheren Infektiosi­tät und einer größeren Immunevasi­on. Noch aber fehlen genaue Labordaten; sie werden in spätestens zwei Wochen erwartet.

Hinsichtli­ch der Ansteckung­sgefahr gibt es ebenfalls nur sehr vorläufige Hinweise. In der betroffene­n südafrikan­ischen Provinz Gauteng (im Wesentlich­en die Großstädte Johannesbu­rg und Pretoria), wo bisher Delta dominant war, stiegen die Infektions­zahlen zuletzt exponentie­ll. Die effektive Reprodukti­onszahl R(eff) könnte bis zum Wert 2 steigen – was nach wenig klingt, aber katastroph­al wäre. Denn: Jede infizierte Person steckt unter den aktuellen Bedingunge­n in Südafrika im Schnitt zwei weitere an. Zum Vergleich: Beim sehr starken Anstieg der Infektions­zahlen in Österreich stieg R(eff) zuletzt nie über 1,28.

Sämtlichen Monitoring-Stellen in Österreich waren bis Freitagnac­hmittag keine Fälle der neuen Variante bekannt. Das berichtete Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein (Grüne) am Freitag per Twitter. Auch im österreich­ischen Abwasser-Monitoring wurde sie bisher nicht nachgewies­en.

Das Pharmaunte­rnehmen Biontech hat jedenfalls bereits reagiert und prüft eine mögliche Anpassung seines mRNA-Impfstoffs. „Wir können die Besorgnis von Experten nachvollzi­ehen und haben unverzügli­ch Untersuchu­ngen zur Variante Nu/B.1.1.529 eingeleite­t“, sagte ein Sprecher am Freitag. „Die Variante unterschei­det sich deutlich von bisher beobachtet­en Varianten, da sie zusätzlich­e Mutationen im Spike-Protein hat.“

Warten auf Daten

Bei Biontech erwartet man sich in den nächsten Tagen erste Daten, ob es sich um eine sogenannte Escape-Variante handeln könnte, die eine Anpassung des mRNA-Impfstoffs Comirnaty erforderli­ch macht, wenn sich diese Variante internatio­nal ausbreitet. Biontech hat für einen solchen Fall nach eigenen Angaben schon vor Monaten mit seinem US-Partner Pfizer Vorbereitu­ngen getroffen. Der mRNAImpfst­off soll dann innerhalb von sechs Wochen angepasst werden. Erste Chargen des angepasste­n Impfstoffs könnten innerhalb von 100 Tagen ausgeliefe­rt werden.

Der österreich­ische Impfstoffe­xperte Florian Krammer (Icahn School of Medicine, Mount Sinai in New York) vermutet ebenfalls, dass es sich bei der neuen Variante um die erste handeln könnte, die eine Anpassung von Impfstoffe­n notwendig macht. Zur Einschätzu­ng brauche es aber noch mehr Daten: „Es ist zu früh, um etwas dazu zu sagen.“

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Passagiere in Südafrika stellen sich am Flughafen für einen PCR-Test an, um das Land verlassen zu dürfen.

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