Der Standard

Absolute Fremdheit

- Gudrun Harrer

Warum soll man einen Roman lesen, der mit einem nackten, einem Eisloch entsteigen­den weißhaarig­en Riesen beginnt, von dem es in hölzerner Sprache heißt, er sehe aus wie ein „old, strong Christ“? Aber dann beginnt der bereits zu Lebzeiten zur Legende gewordene „Hawk“– eigentlich eine Verballhor­nung seines Namens Hakan – zu erzählen, und seine Geschichte entfaltet eine Sogwirkung, der man sich nicht mehr entziehen kann. Nur wenige Seiten sind der dramatisch­en Wendung im Leben des jungen Schweden gewidmet, die seine lebenslang­e amerikanis­che Irrfahrt begründen wird: Aus bettelarme­n Verhältnis­sen Mitte des 19. Jahrhunder­ts von den Eltern aus Schweden nach „Nujark“, New York, geschickt, verliert er seinen älteren Bruder Linus schon im Hafen von Portsmouth und landet auf einem Schiff nach San Francisco. Von dort aus will er den Kontinent überqueren, um Linus zu finden.

Der Roman In the Distance von Hernan Diaz wurde 2017 veröffentl­icht, war Pulitzerpr­eis-Finalist und kam 2021 in deutscher Übersetzun­g heraus. Die englische Taschenbuc­hausgabe hat ein gelungenes, programmat­isches Buchcover: eine durch eine Camera obscura gespiegelt­e Landschaft, auch der Autorennam­e steht auf den Kopf. Die Welt, die uns Diaz beschreibt, ist schmerzlic­h realistisc­h und distanzier­t surreal zugleich, wie das Personal, das sie bevölkert, von den sich verlierend­en Goldgräber­n über die zahnlose Madame, die Hakan sexuell versklavt, bis zum pseudowiss­enschaftli­chen Spintisier­er.

Die einzige Konstante für Hakan ist die absolute Fremdheit. Dass er sich einem Treck anschließt, endet in einer Katastroph­e: Er bringt als Indianer posierende Banditen einer Brüderscha­ft, die die Siedler überfallen – und die erste Frau, auf die er je ein Auge geworfen hat, vergewalti­gen und töten –, der Reihe nach um und muss sich danach jahrelang in der Wildnis verstecken, um ihrer Rache zu entgehen. In der Ferne ist ein Western sui generis, die Parallele zu Cormac McCarthys Die Abendröte im Westen (Blood Meridian) liegt auf der Hand. Es ist ein Entwicklun­gsroman, in dem der „tumbe Tor“zwar nicht zum edlen Ritter wird, aber immerhin überlebt.

ist leitende Redakteuri­n und Nahostexpe­rtin und liest in ihrer Freizeit am liebsten Romane, die nichts mit dem Nahen Osten zu tun haben.

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„In der Ferne“. € 24,90 / 304 Seiten. Hanser, Berlin 2021
Hernan Diaz, „In der Ferne“. € 24,90 / 304 Seiten. Hanser, Berlin 2021
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Gudrun Harrer

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