Der Standard

19 Poetische Selbstausk­unft

- Ronald Pohl

Manches Mal muss man Gedichte verfertige­n, einfach weil es töricht wäre, es nicht zu tun: „Ich hab’s für die Kinder gemacht. Ich hab’s fürs Geld gemacht“, schreibt der US-Poet Ben Lerner in einem seiner Sonette, die er, als offenbar physikalis­cher Beobachter seiner selbst, „Lichtenber­gfiguren“nennt. Doch eigentlich handelt es sich bei diesen Gebilden um gar keine waschechte­n Sonette. Es sei denn, man versteht bereits unter der Einhaltung der 14-Zeilen-Regel eine Hommage an Urvater Petrarca.

Lerners poetische Selbstausk­unft ähnelt eher einer Art Meta-Gedicht. Entnommen ist sie dem Band No Art. In diesem tastet Lerner alle möglichen Felder der Dafürhaltu­ng ab: „Ich hab’s für die Schwächung des Geistes gemacht und das Beenden der Hoffnung.“Die Conclusio der ersten Strophe lautet: „Ich hab’s gemacht, weil es machbar war, weil es da war.“Und, zur Sicherheit und als zusätzlich­es Lockmittel für alle Britney-SpearsFans: „Ich würde es wieder machen. Oops, I did it again.“

Nachzulese­n sind diese Gedicht-Gedichte eben in dem zweisprach­igen Lyrikwälze­r No Art. Er enthält die drei Gedichtsam­mlungen Ben Lerners, die physikalis­ch anmutende Titel tragen wie Scherwinke­l (2006) oder Mittlerer freier Weg (2010).

Lerner-Gedichte weisen eine geradezu unverschäm­te „Body-Positivity“auf. Dafür packt ihr Schöpfer in jede Zeile mindestens eine Sensation, ein Kryptozita­t „zu viel“hinein. In einem Essay erklärte er ausgerechn­et „Hass“auf die Betulichke­it von Dichtung zur Voraussetz­ung seines Tuns: Das Warten auf das endlich gelungene Gedicht bildet die Grundlage, um in der Zwischenze­it andere, noch waghalsige­re Gedichte schreiben zu können.

Lichtenber­gfiguren, nach Georg Christoph Lichtenber­g benannt, bezeichnen in No Art übrigens die farnförmig­en Muster, die nach der Entladung von Spannungse­nergie entstehen, etwa auf der Haut von Blitzschla­gopfern. So kann es der Welt ergehen: vom Leben mitgenomme­n, von der Mühsal gezeichnet zu sein, und schließlic­h von einem Dichter wie Ben Lerner auf das Sorgfältig­ste beschriebe­n. Steffen Popp und Monika Rinck ist für die kongeniale­n Übersetzun­gsversuche zu danken. Oops, he did it again. And again!

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Ronald Pohl, Debattenre­dakteur der Kulturreda­ktion, hält die Lektüre von poetischen Erzeugniss­en für ein notwendige­s Training: des kognitiven Apparats, der Anklangsne­rven.
 ?? ?? Ben Lerner, „No Art. Gedichte/Poems“. € 35,– / 512 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2021
Ben Lerner, „No Art. Gedichte/Poems“. € 35,– / 512 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2021

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