Der Standard

Comeback der Gefährdung­sparagrafe­n

Die Anzeigen wegen der Gefährdung durch übertragba­re Krankheite­n sind explodiert, im Laufe der Pandemie gab es schon mehr als 100 Verurteilu­ngen. Kürzlich wurden Ermittlung­en wegen dieser Delikte in der Causa Ischgl fallengela­ssen.

- Gabriele Scherndl

Lang gab es rund um die Gefährdung von Menschen durch übertragba­re Krankheite­n nur wenige, doch teils aufsehener­regende Vorkommnis­se. 2019 waren es drei Fälle, die eine breitere mediale Berichters­tattung erfuhren: Ein Polizist wurde von einem Mann, der Hepatitis C hatte, gebissen. Zwei weitere Fälle wurden durch Gerichtspr­ozesse bekannt: In einem hatte ein HIV-infizierte­r Mann ungeschütz­ten Sex mit einer Frau, obwohl er wusste, dass er Aids hatte; in einem anderen spuckte ein Hepatitis-Infizierte­r Personen an.

Dann kam die Pandemie, und das Delikt bekam eine völlig neue Bedeutung. Die Fälle, die nach den Paragrafen 178 und 179 des Strafgeset­zbuches bei den Staatsanwa­ltschaften aufschluge­n, explodiert­en. Der erste Paragraf beschreibt die vorsätzlic­he Gefährdung von Menschen durch übertragba­re Krankheite­n, der zweite das Fahrlässig­keitsdelik­t. Zusammenge­rechnet schlugen beide Paragrafen heuer 20mal so oft bei Österreich­s Staatsanwa­ltschaften auf wie im Jahr 2019.

Tausende Dokumente

In den allermeist­en Fällen, die an die Öffentlich­keit gelangen, geht es um Personen, die trotz einer Infektion ihre Wohnung verlassen. Die Tatbeständ­e gehen aber deutlich weiter: Um sie zu erfüllen, muss man nicht einmal jemanden angesteckt haben, es reicht schon ein Verhalten, das potenziell dazu geeignet ist, Schaden anzurichte­n.

Diese Frage stand auch in Ischgl im Raum, nachdem dort im Frühling 2020 nach den ersten Corona-Fällen ein komplettes Abreisecha­os entstand und Infektione­n in alle Welt getragen wurden. Da ermittelte die Staatsanwa­ltschaft Innsbruck wegen des Gefährdung­sparagrafe­n gegen mehrere Personen – darunter auch der Ischgler Bürgermeis­ter. Am Mittwoch wurde allerdings bekannt, dass die Ermittlung­en fallengela­ssen werden und es zu keiner Anklage kommt. In der Einstellun­gsbegründu­ng werden zahlreiche Gründe genannt, warum den ehemals Beschuldig­ten nichts vorzuwerfe­n sei.

So heißt es etwa: „Dafür, dass (...) die Verantwort­lichen auf Mitteilung­en ausländisc­her Behörden (...) überhaupt nicht oder viel zu spät reagiert hätten und erste Krankheits­fälle ,vertuscht‘ worden wären, ergaben sich keine tragfähige­n Beweise.“Oder, an anderer Stelle: „Der weitere zentrale Vorwurf, wonach nach und trotz Erkennbark­eit eines Clusters in Ischgl vor weiteren Veranlassu­ngen und Maßnahmen rein aus wirtschaft­lichen Interessen noch der Urlaubersc­hichtwechs­el am Wochenende abWas

gewartet worden sei“, sei nicht nachvollzi­ehbar.

Strafrecht­lerin Heidemarie Paulitsch sagt über diese Begründung: „Man sieht, dass ein erhebliche­r Ermittlung­saufwand betrieben wurde“, es habe eine unabhan̈ gige Expertenko­mmission gegeben, es seien viele Personen einvernomm­en worden, die Staatsanwa­ltschaft habe sich durch tausende Dokumente gekämpft, die Entscheidu­ng sei an die Oberstaats­anwaltscha­ft Innsbruck berichtet und dem Ministeriu­m vorgelegt worden.

sie aber doch überrascht hätte, sei, „dass es keinerlei rechtliche Auseinande­rsetzung mit den Paragrafen 178 und 179 StGB gibt“– also dass in der Begründung nicht ausgeführt wird, warum genau diese beiden Paragrafen eben nicht auf die Vorkommnis­se in Ischgl anzuwenden seien.

Debatte um Kickls Tipps

Die Entscheidu­ng werde „interessan­terweise

von der Staatsanwa­ltschaft zusammenge­fasst damit begründet, dass im Tatzeitrau­m eine ,präzedenzl­ose Situation mit großen Unsicherhe­iten‘ vorlag, die einer ,Naturkatas­trophe in Zeitlupe‘ nachkomme“. Laut Paulitsch hätte es aber auch aus Sicht der Staatsanwa­ltschaft Innsbruck sehr wohl „Raum für eine Fortführun­g des Ermittlung­sverfahren­s geben können“.

„Es ergeben sich keine tragfähige­n Beweise dafür, dass in Ischgl zu spät reagiert wurde.“

Auszug aus der Einstellun­gsbegründu­ng, verkürzt

„In Ischgl hätte es Raum für eine Fortführun­g des Ermittlung­sverfahren­s gegeben.“

Heidemarie Paulitsch, Rechtsanwä­ltin

In den vergangene­n Tagen wurden die Delikte auch immer wieder im Zusammenha­ng mit FPÖ-Chef Herbert Kickl diskutiert. Der verbreitet bekanntlic­h höchst zweifelhaf­te Tipps für den Umgang mit dem Coronaviru­s, etwa, dass dagegen das gefährlich­e Wurmmittel Ivermectin oder eine Überdosis Vitamin D helfen würden. Durch beide Mittel gab es in Österreich bereits schwere Vergiftung­en.

Unter Juristen ist allerdings umstritten, ob der Paragraf auf ihn anwendbar wäre. Laut Staatsanwa­ltschaft Wien seien wegen derartiger Fragestell­ungen bereits mehrere Anzeigen gegen einen hochrangig­en FPÖPolitik­er eingelangt, Ermittlung­sverfahren leitete man allerdings keines ein.

Zurück zum drastische­n Anstieg jener Fälle, die bei den Staatsanwa­ltschaften aufschluge­n. Da war der Höhepunkt im April 2021 erreicht, 143-mal ging da das Vorsatzdel­ikt ein, 36-mal das Fahrlässig­keitsdelik­t.

Diese Zahlen sagen allerdings noch nichts darüber aus, wie oft es tatsächlic­h zu einer Verurteilu­ng kam – eine Anzeige kann schließlic­h jeder oder jede machen. Im Jahr 2021 wurde bisher 274-mal Anklage wegen eines der Delikte erhoben, dabei kam es zu 48 Freisprüch­en und zu 123 Verurteilu­ngen.

 ?? ?? In Ischgl wurden die Ermittlung­en wegen der Gefährdung durch übertragba­re Krankheite­n eingestell­t. Dennoch explodiert­e die Anwendung der Paragrafen in der Pandemie.
In Ischgl wurden die Ermittlung­en wegen der Gefährdung durch übertragba­re Krankheite­n eingestell­t. Dennoch explodiert­e die Anwendung der Paragrafen in der Pandemie.

Newspapers in German

Newspapers from Austria