Der Standard

Stephen Sondheim 1930–2021

Einer der großen Musical-Komponiste­n und -Texter des 20. Jahrhunder­ts ist tot: Der US-Künstler Stephen Sondheim ist 91-jährig gestorben. In seinen Werken erlangt das Genre die Würde als anspruchsv­olles Musiktheat­er zurück.

- Ljubiša Tošić

Als der junge Stephen Sondheim dem Vater seines Freundes Jimmy, also Oscar Hammerstei­n II, Proben seines Schaffens vorlegte, empfahl ihm der etablierte Texter: Zwecks Weiterbild­ung möge der Junge ein Musical zu einer bekannten Erzählung schreiben, die noch nie dramatisie­rt wurde. Sondheim tat es, und Hammerstei­n wurde sein Mentor. Nebst Kompositio­nsstudien beim Avantgardi­sten Milton Babbitt blieb diese Begegnung mit dem Mitautor von Klassikern wie Show Boat und Sound of Music extrem prägend.

Sondheim, 1930 in New York geboren, blieb nicht nur beim Musicalgen­re. Auch vertonte und dramatisie­rte er, wie empfohlen, nicht nur bekannte Geschichte­n. Mitunter nahm er Figuren aus berühmten Märchen und würfelte sie zu einem neuen Stück zusammen. Etwa bei Into the Woods.

Brutales Märchen

Das 1987 in New York uraufgefüh­rte Musical wirkt als Party jener Figuren, die wir von den Brüdern Grimm her kennen. Aschenputt­el, Rapunzel, Rotkäppche­n und Hexe sind da jedoch in Todesgefah­r. Sie treten gegen eine mörderisch­e Riesin an, die schließlic­h selbst erledigt wird. Auch musikalisc­h ist das Stück, das uns und die überlebend­en Märchenfig­uren lehren soll, wie wichtig gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt ist, trotz seiner Leichtigke­it von besonderer Raffinesse.

Rund um eine zentrale markante Kernmelodi­e ist Into the Woods ein Exempel ambitionie­rter Kompositor­ik, welche die Geschichte und deren dramaturgi­sche Anforderun­gen berücksich­tigt. Text und Musik sind

gleichbere­chtigt, befinden sich im Gleichgewi­cht. Das durchkompo­nierte Musical glänzt durch seine anspruchsv­olle Instrument­ierung, wie es übrigens nicht bei jeder Oper Sitte ist. Das Orchester kommentier­t das Geschehen, leuchtet es farbsubtil aus, charakteri­siert Figuren. Obwohl Sondheim mit dem aus seinem Musical A Little Night Music

kommenden Lied Send in the Clowns einen Welthit landete, war er vor allem ein Vertreter des anspruchsv­ollen, mitunter engagierte­n Musicals gewesen.

Es gab dazu Vorbilder. Leonard Bernsteins West Side Story (1957) – jenes Stück, mit dem der 25-jährige Sondheim bekannt wurde, da er die Liedtexte schrieb – zeigte, wie man

sozialkrit­ische Themen und Hitqualitä­t unverkramp­ft verschmelz­en kann. Und Sondheim intensivie­rte diesen Anspruch sogar und wählte gerne Topoi, mit denen es anzuecken galt.

Seine Projekte konzipiert­e er nicht vordringli­ch unter jenem kommerziel­len Gesichtspu­nkt, der etwa beim reiferen Andrew Lloyd

Webber zu dominieren schien. Nicht zufällig heißt Webbers Musicalfir­ma durchaus offenherzi­g „Really Useful Group“...

Hört man ein Stück wie Sunday in the Park with George, für das Sondheim 1985 den Pulitzerpr­eis erhielt und das von einem Gemälde des französisc­hen Malers Georges Seurat inspiriert ist, zeigt sich: Mit virtuosem Handwerk hat Sondheim eher das musikalisc­h Satirische des klassische­n Musicals in die Moderne hinüberger­ettet, als massentaug­liche Blockbuste­r zu produziere­n.

Attentäter auf die Bühne

Die Charaktere, die er dabei entwickelt­e, waren denn auch nie harmlos. In Sweeney Todd wütet ein Barbier, der nach Verlust von Frau und Kind im Rachewahn Kunden tötet. Sondheim, den sie „Broadway’s Bad Boy“nannten, hielt dieses Werk für eine „schwarze Operette“. Doch auch ein Stück wie Assassins (1990) ging nicht als helles Kitschlich­t des platten Entertainm­ents in die Musicalges­chichte ein. Darin werden einige historisch verbürgte Attentäter auf die Bühne geschickt, die versucht hatten, verschiede­ne US-Präsidente­n umzubringe­n.

Was Wunder, dass Sondheims nie anbiedernd­e Werke in der „Musicalmet­ropole“Wien gerade einmal an der Wiener Volksoper zu sehen waren und sind (Into the Woods kommt wieder), nicht jedoch im Raimundthe­ater oder im Ronacher.

Komponist und Texter Stephen Sondheim ist Sunday in the Park with George am Freitag in seinem Haus in Roxbury im US-Bundesstaa­t Connecticu­t 91-jährig gestorben. Am Vortag hatte er mit Freunden noch Thanksgivi­ng gefeiert.

 ?? ?? 1957, „West Side Story“: Komponist Leonard Bernstein zeigt, wie man seine Ideen singen soll. Am Klavier der legendäre Textdichte­r Stephen Sondheim, der nun mit 91 Jahren gestorben ist.
1957, „West Side Story“: Komponist Leonard Bernstein zeigt, wie man seine Ideen singen soll. Am Klavier der legendäre Textdichte­r Stephen Sondheim, der nun mit 91 Jahren gestorben ist.

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