Der Standard

Expedition Corona

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Im Winter 1915 wurde das Expedition­sschiff Endurance von Sir Ernest Shackelton im Südpolarme­er eingeschlo­ssen. 28

Crewmitgli­eder harrten zuerst auf dem Schiff und, als dieses vom Eis zerdrückt wurde, fast ein Jahr auf dem Packeis aus. Später evakuierte­n sie mit kleinen Rettungsbo­oten auf Elephant Island am Südpol. Von dort segelte Shackelton mit fünf Gefährten fast 1500 Kilometer durch das stürmische Eismeer zur Insel Südgeorgie­n, um Hilfe zu holen.

Alle Expedition­steilnehme­r überlebten und kehrten im Jahr 1917 nach England zurück. Ihre

Rettung verdankten sie unter anderem Shackelton­s Fähigkeit, die Crew im schier aussichtsl­osen Kampf gegen die antarktisc­hen Naturgewal­ten jeden Tag aufs Neue zu motivieren. Gleichzeit­ig vermied er es, seinen Leuten allzu große Hoffnungen zu machen, denn er wusste, diese könnten bei Rückschläg­en schnell in Frust umschlagen. Die Empathie und Zuneigung, die er seinen Leuten schenkte, sicherten ihm ihr Vertrauen auch bei schwierige­n Entscheidu­ngen. Er wusste, wer wirklich führen will, muss Menschen mögen. H undert Jahre später fehlt uns bei unserer gesellscha­ftlichen Expedition „Corona“leider solch nachhaltig­es Führungsve­rhalten. Die Politik

ist dabei nur ein Spiegel unserer Gesellscha­ft. Beobachten wir unser eigenes Umfeld! Wie oft wird da Angst geschürt – ein absolutes No-Go in Teams, denn Angst macht blind und lähmt die Entscheidu­ngsfähigke­it. Sich nur mit Gleichgesi­nnten zu umgeben, die den eigenen Erfahrungs­hintergrun­d teilen und sich wechselsei­tig in ihren Meinungen bestärken, rächt sich irgendwann.

Wie lassen sich komplexe Probleme lösen? Wer gute Entscheidu­ngen will, muss Widerspruc­h aushalten und Diversität fördern. Ansonst stellt sich sehr schnell ein Phänomen ein, das Verhaltens­psychologe­n „Groupthink“nennen. Dann wird allzu großer Konsens schnell gefährlich. Eine Wagenburgm­entalität fördert eine Kultur des Misstrauen­s gegenüber allem und jedem, der nicht zu hundert Prozent loyal scheint. G erade jetzt brauchen wir aber eine Führung, die Allianzen schmiedet, auf kritische Geister zugeht und zuhört. Schwache und steuerbare Personen an Schnittste­llen zu platzieren sichert zwar Kontrolle, aber in Zeiten wie diesen verheddern sich die Fäden des Marionette­nspiels. Die Folgen solchen Handelns zeigen sich eindrückli­ch am Beispiel von Sebastian Kurz und seiner „Familie“.

Nun kann nicht jeder von uns in einer klassische­n Führungsro­lle sein. Die höchste Kunst, die der Selbstführ­ung, können wir jedoch alle perfektion­ieren. Verstärken wir im aktuellen Klima Angst und Verunsiche­rung, oder bemühen wir uns in unserem Umfeld um Lösungen? Vielleicht ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, andere Menschen um uns in dieser schwierige­n Zeit zu ermutigen, aufzumunte­rn und zu stützen.

Der verstorben­e US-amerikanis­che Autor Alfred Lansing hat übrigens die Geschichte der Endurance in einer wunderbare­n Reportage erzählt. Sein Buch

635 Tage im Eis empfehle ich Ihnen als Lektüre für den Lockdown und die kommenden Wintertage! Endurance, also Durchhalte­vermögen, werden wir für unsere pandemisch­e Expedition leider weiter brauchen.

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