Der Standard

Solidaritä­t – auch aus Egoismus!

Staaten, die rechtzeiti­g warnen, dürfen nicht für richtiges Handeln bestraft werden

- Manuel Escher

Es ist, wenn man so will, eine Überraschu­ng der wenig überrasche­nden Art. Warnungen, dass es in Ländern mit geringer Impfrate leichter zu Mutationen des Coronaviru­s kommen kann, gab es schon lang. Ebenso Hinweise darauf, dass es vor allem afrikanisc­he Staaten sind, die bei der Vakzin-Belieferun­g durch die Finger schauen. Nun ist es eben so weit: Die Variante B.1.1.529, am 11. November in Botswana erstmals sequenzier­t vom simbabwisc­hen Virologen Sikhulile Moyo, geht um die Welt. Omikron heißt sie jetzt, und auch wer im wohlhabend­en Teil der Welt nach ihr sucht, wird schnell fündig. In den Niederland­en wurde sie entdeckt, in Deutschlan­d, Israel, Tschechien – und auch Österreich. Wie gefährlich sie ist, weiß man wohl erst in ein bis zwei Wochen. Doch vorerst löst sie große Besorgnis in der Wissenscha­ft aus – und äußerst hektische Reaktionen der Politik.

Vorsicht ist sicher richtig, solange das Gefahrenpo­tenzial unklar ist. Dazu gehören, grundsätzl­ich, auch Grenzschli­eßungen. Sie können, wie man sieht, den Import von Omikron, nicht verhindern. Aber sie können die Ausbreitun­g, zumindest am Anfang, verlangsam­en. Dazu müssen sie zielsicher sein. Ob sie das derzeit sind, weiß niemand. Denn wo das Virus wirklich besonders grassiert, lässt sich schwer abschätzen. Südafrika und Botswana haben als relativ wohlhabend­e, von der HIV-Pandemie stark betroffene Staaten, gute Labore. Viele andere Länder in der Region haben sie nicht. So wie, im Übrigen, auch viele EU-Länder bei der Varianten-Sequenzier­ung säumig sind. B esonders betroffen ist nun aber Südafrika, wo die Variante wohl nicht entstanden ist, wo Forschende aber am Donnerstag in einer großen Pressekonf­erenz der Regierung vor ihr warnten. Ein bemerkensw­ert schnelles und transparen­tes Vorgehen, mit dem das Land der Welt einen Dienst erwiesen hat. Dank gab es kaum. Und die Reisesperr­en westlicher Staaten empfinden viele im Land am Kap als eine eilfertig losgetrete­ne Schikane. Der ausbleiben­de Tourismus werde der schwachen Wirtschaft massiv zusetzen, so die Warnung.

Tatsächlic­h kann man eines schwer bestreiten: Das Land ist seiner Verantwort­ung nachgekomm­en – und hat nun den Schaden. Die abschrecke­nde Wirkung ist groß. Andere Staaten, die in der Zukunft neue Varianten entdecken, werden sich wohl zweimal überlegen, so schnell und offen vor ihnen zu warnen.

Die internatio­nale Gemeinscha­ft müsste ein Zeichen setzen. Der in Südafrika arbeitende Experte Tulio de Oliveira, der Donnerstag in der Pressekonf­erenz auftrat, schlägt den Aufbau eines internatio­nalen Fonds vor. Er soll Ländern, die ihrer Verantwort­ung nachkommen, entgangene Einnahmen ersetzen. Es ist ein Vorschlag, der zumindest dieses Dilemma beheben könnte. Darüber hinaus aber muss es endlich ein Umdenken

geben. Will man die Entstehung neuer Varianten wenigstens verlangsam­en, muss die globale Impfkampag­ne in Schwung kommen. Laut aktueller Statistik stand die Impfrate in den am wenigsten entwickelt­en Staaten der Welt jüngst bei knapp sechs Prozent. Das ist aus einem humanitäre­n Standpunkt nicht akzeptabel – und selbst egoistisch gedacht nicht im Sinne reicher Länder. Vorübergeh­ende Lockerunge­n bei den Impfstoffp­atenten würden helfen. Selbst wenn sich Omikron nicht als jene Gefahr herausstel­len sollte, die viele derzeit fürchten: Ein Weckruf sollte es allemal sein.

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