Der Standard

Gefangen im Teufelskre­is

Die strikte Zero-Covid-Politik des chinesisch­en Regimes führt zu einem Dilemma: Sobald das Land seine Grenzen wie versproche­n öffnet, drohen massenhaft­e Infektione­n.

- Philipp Mattheis aus Schanghai

Als „demoralisi­ert“hat Jörg Wuttke die Stimmung unter Expats jüngst bezeichnet. Der Präsident der Europäisch­en Handelskam­mer in Peking setzt sich seit Jahren für die Belange ausländisc­her Geschäftsl­eute in China ein. Viele der Ausländer dort seien seit zwei Jahren nicht mehr daheim gewesen. Insgesamt sinke die Zahl der Expats stetig – noch 260.000 sind es an der Zahl, so viele Ausländer leben im kleinen Luxemburg auch. Vor zehn Jahren waren es noch über 300.000.

Schuld daran hat vor allem die Zero-Covid-Politik der Regierung. Die Grenzen sind seit Mitte März 2020 geschlosse­n. Nur mit einer speziellen Einladung, unzähligen PCR-Tests, Impfnachwe­isen und einer zwei- bis dreiwöchig­en strikten Hotelquara­ntäne ist eine Einreise überhaupt noch möglich. Und es ist kein Ende in Sicht: Bis Ende 2022 sollen die Grenzen auf jeden Fall noch geschlosse­n bleiben.

Warum aber hält Peking so strikt an dieser Zero-Covid-Strategie fest? Zwar gibt es auch in westlichen Ländern einige Vertreter dieser Politik, diese aber besetzen eher Nischenpos­itionen. Zu unrealisti­sch, zu kurzfristi­g sei diese Strategie, und vor allem ist sie mit Grundrecht­en nicht vereinbar. In Peking aber ist diese Politik Staatsräso­n.

Plötzliche­r Umschwung

Das bedeutet: Wann immer irgendwo ein Covid-Fall gemeldet wird, werden ganze Städte mit Millionen Menschen abgeriegel­t und vom Reiseverke­hr getrennt. Wer sich zufällig an einem solchen Ort befindet, hat Pech gehabt: Es folgt eine 14-tägige Quarantäne. Der Vorteil: Im Rest des Landes geht das Leben ungehinder­t weiter. Wer diesen Herbst zum Beispiel in Schanghai verbrachte, erlebte volle Restaurant­s und Bars. Covid ist in China die meiste Zeit kein Thema. Bis es dann ganz plötzlich eines ist.

Der Nachteil dieser Strategie: Es gibt kein Ende. Anfangs glaubte man, China verschließ­e sich einfach so lange, bis man Impfungen habe, und öffne dann die Grenzen. Nun hat man Impfungen schon seit einigen Monaten (Chinas Impfquote liegt bei rund 80 Prozent), aber die halten das Virus nicht auf, sondern verhindern bestenfall­s schwere Verläufe. Peking hat sich mit seiner Zero-Covid-Strategie in eine Sackgasse manövriert, aus der es kein Entkommen gibt. Natürliche Immunität konnten Chinesen so auch nicht entwickeln.

Das fällt auch immer mehr Entscheide­rn in Peking auf. Vor einigen Wochen konnte man deswegen erstmals Artikel von Professore­n und Wissenscha­ftern in der Hongkonger Zeitung South China Morning Post lesen, die sachte darauf hindeutete­n, dass man vielleicht über Alternativ­en nachdenken müsse. In China werden Gedanken, die gegen die Linie sind, oft über Bande gespielt: Chinesen in Hongkong oder den USA beginnen, vermeintli­ch ketzerisch­e Gedanken zu äußern, die dann langsam vom Zentrum in Peking aufgegriff­en und integriert werden.

„Magische Kugel“

Spätestens seit Omikron aber ist wieder Schluss mit diesen Gedankensp­ielen. Am Montag zitierte die linientreu­e chinesisch­e Zeitung Global Times den chinesisch­en Chefepidem­iologen Wu Zunyou: Die Strategie Pekings habe 200 Millionen Infektione­n und drei Millionen Tote verhindert. Diese Strategie sei die „magische Kugel“in der Seuchenbek­ämpfung Chinas.

Solche Zahlenspie­le sind freilich immer beeindruck­end – welcher Politiker im pandemiege­plagten Europa würde nicht gerne von sich behaupten, Millionen Menschen das Leben gerettet zu haben.

Das eigentlich Interessan­te aber folgte ein paar Absätze später: Dort nämlich erklärt Epidemiolo­ge Wu, was passieren würde, wenn China die Grenzen öffne und dem Beispiel der USA folge: Das hätte täglich 630.000 Infektione­n zur Folge. Würde man die Strategie Großbritan­niens kopieren, käme man auf 270.000 Infektione­n pro Tag.

Wie genau die Zahlen zustande kämen, erklärte Wu nicht. Klar aber ist: China kann und wird die Grenzen bis auf weiteres nicht öffnen. Sobald dies geschieht, würden die Infektione­n in schwindele­rregende Höhen steigen. China muss sich also weiter isolieren und seine teure Zero-Covid-Strategie fortführen.

Was das bedeutet, erfuhren zuletzt die Einwohner von Manzhouli, einer 200.000-Einwohner-Stadt in der Inneren Mongolei. Nachdem dort 21 Bewohner positiv getestet wurden, verhängte man Ausreiseun­d Ausgangssp­erren über die Stadt. Alle Bewohner mussten am Montag zum Massentest.

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Foto: Reuters / Aly Song Ein Sicherheit­sbeamter in Schutzklei­dung kontrollie­rt an einem U-Bahn-Eingang in Schanghai die QR-Codes der Fahrgäste.

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