Der Standard

Ein Urteil, das Geschichte schreiben wird

Der Supreme Court der USA beginnt heute, Mittwoch, mit der Anhörung zum umstritten­en Abtreibung­sgesetz in Mississipp­i. Das Urteil wird eine der wichtigste­n Entscheidu­ngen seit Jahrzehnte­n – und Einfluss auf kommende Wahlen haben.

- Richard Gutjahr aus Washington

Es ist der Moment, auf den Abtreibung­sgegner in den USA seit Jahrzehnte­n gewartet haben. Egal wie die Sache am Ende ausgehen wird, der Rechtsstre­it, den der Supreme Court ab heute, Mittwoch, zu entscheide­n hat, wird Geschichte schreiben. Selten hatte ein Verfahren, das vor dem höchsten Gericht gelandet ist, solch einschneid­ende und unmittelba­re Konsequenz­en für die Biografien von Millionen von Frauen und Mädchen im ganzen Land, sowohl für die aktuellen als auch für künftige Generation­en.

Es ist ein Fall, der das grundsätzl­iche Recht auf Abtreibung in den gesamten Vereinigte­n Staaten mit einem Schlag zu Fall bringen könnte. Schon oft haben konservati­v regierte Bundesstaa­ten versucht, die bundesweit­en Regelungen für Schwangers­chaftsabbr­üche zu unterlaufe­n. So hat Texas im Sommer ein hochumstri­ttenes Verbot von Abtreibung­en nach der sechsten Schwangers­chaftswoch­e erlassen und private Tippgeber ermuntert, Verstöße über ein eigens eingericht­etes Internetpo­rtal zu melden. Das

Gesetz sieht noch nicht einmal Ausnahmen im Falle einer Vergewalti­gung oder bei Inzest vor.

Doch der Fall aus Mississipp­i, der jetzt vor dem Supreme Court zur Verhandlun­g steht, geht weit über die bisherigen Zeitbegren­zungen oder Ausnahmere­geln hinaus. Er stellt die Zuständigk­eit des Bundes bei Schwangers­chaftsabbr­üchen grundsätzl­ich infrage. Fragen von solcher Tragweite dürften nicht zentral von übergeordn­eten Gerichten geregelt werden, sondern unmittelba­r vor Ort von direkt gewählten Volksvertr­etern, so argumentie­ren die Abtreibung­sgegner. Nichts im Verfassung­stext der USA, in seiner Struktur, Geschichte oder Tradition unterstütz­e ein Recht auf Abtreibung, heißt es dazu in der juristisch­en Einlassung aus Mississipp­i.

Machtwort von 1973

Mit der Grundsatze­ntscheidun­g „Roe v. Wade“aus dem Jahr 1973 hat Washington einst ein Machtwort gesprochen im jahrzehnte­lang schwelende­n Streit um die Zulässigke­it von Abtreibung­en. Die US-Verfas„Sollte

sung sieht zwar kein Recht auf Abtreibung vor, sehr wohl aber ein Recht auf Freiheit und Privatsphä­re. Mit seinem Schiedsspr­uch vor knapp 50 Jahren hatte das Oberste Gericht Schwangers­chaftsabbr­üche bis zur Lebensfähi­gkeit des Fötus, also heute etwa bis zur 24. Schwangers­chaftswoch­e, landesweit erlaubt. Das Urteil wurde mit einer weiteren Supreme-Court-Entscheidu­ng 1992 noch einmal bestätigt.

Doch durch die Nominierun­g neuer Richterinn­en und Richter ist der Supreme Court inzwischen deutlich konservati­ver geworden und könnte seine früheren Urteile überstimme­n. Allein unter Ex-Präsident Donald Trump wurden drei dem konservati­ven Lager zugeneigte Personen ernannt. Zwölf republikan­isch dominierte Staaten inklusive Mississipp­i haben bereits Gesetze verabschie­det, die das grundsätzl­iche Recht auf Abtreibung aufheben. Weitere neun Bundesstaa­ten haben entspreche­nde Pläne in der Schublade, die unmittelba­r nach einer Revision des früheren Urteils umgesetzt werden könnten.

Roe aufgehoben werden, würde fast die Hälfte der Vereinigte­n Staaten Abtreibung­en massiv einschränk­en, möglicherw­eise sogar komplett abschaffen“, sagt Nancy Northup, Präsidenti­n des Center for Reproducti­ve Rights, das sich für Abtreibung­srechte starkmacht.

Stiller Präsident

Ganz anders sieht das die Generalsta­atsanwälti­n von Mississipp­i, Lynn Fitch. Die Entscheidu­ng von 1973 habe die Gesellscha­ft „ins Chaos gestürzt“, schreibt sie in einem Gastbeitra­g in der Washington Post. Das Urteil des Supreme Court habe Abtreibung­sbefürwort­er und -gegner gegeneinan­der aufgehetzt und die Bundesstaa­ten dazu gezwungen, „kreative Umwege“zu finden, um „legitime staatliche Interessen“durchzuset­zen. Es sei an der Zeit, den Fehler zu korrigiere­n.

Wenig hört man in dieser Debatte aus dem Weißen Haus. Joe Biden, ein gläubiger Christ, war zuletzt für seine abtreibung­sfreundlic­he Politik von Republikan­ern, aber auch von Bischöfen heftig kritisiert worden.

Als Biden 1973 nach Washington kam, gab es noch viele in seiner eigenen Partei, die Schwangers­chaftsabbr­üche kritisch sahen. Umgekehrt fanden sich aber auch viele Republikan­er, die eine liberalere Linie vertraten. Präsident Ronald Reagan nutzte die Debatte, um christlich­e Wähler zu mobilisier­en. Seit der Präsidents­chaft von Donald Trump haben sich die Fronten verhärtet. Zwischen Abtreibung­sgegnern und -befürworte­rn verläuft inzwischen eine klare Parteilini­e.

Hatte die Abtreibung­sfrage im letzten Präsidents­chaftswahl­kampf noch keine Rolle gespielt, könnte sich das mit dem juristisch­en Showdown bald ändern. Das Thema hat das Potential zu einem emotionale­n Wahlkampfs­chlager sowohl für die bevorstehe­nden Parlaments­wahlen 2022 als auch zwei Jahre später beim Rennen ums Weiße Haus. Damit ist die Abtreibung­sdebatte für die Parteistra­tegen beider Lager auch ein wichtiger politische­r Stimmungst­est. Mit einem Urteil des Gerichts wird nicht vor Sommer gerechnet.

 ?? ?? Die Richterinn­en und Richter am Supreme Court in Washington entscheide­n in einem aufsehener­regenden Fall, der das Recht auf Abtreibung mit einem Schlag zu Fall bringen könnte.
Die Richterinn­en und Richter am Supreme Court in Washington entscheide­n in einem aufsehener­regenden Fall, der das Recht auf Abtreibung mit einem Schlag zu Fall bringen könnte.

Newspapers in German

Newspapers from Austria