Der Standard

„Die Freude, Haare an einem Ameisenbei­n zu zählen“

Ist Expertin für soziale Insekten. Nun wendet sie sich Größerem zu: dem Phänomen Neurodiver­sität. Warum autistisch­e Forschende womöglich exakter arbeiten und Frauen im Spektrum oft übersehen werden.

- Alice Laciny INTERVIEW: Nadja Sarwat

Sie sprach schon in ganzen Sätzen, als sie noch auf allen vieren unterwegs war. Die Leidenscha­ft für kleine Krabbler begleitet die Entomologi­n auch schon ihr Leben lang. Mit ihrem neuen, kürzlich ausgezeich­neten Projekt widmet sich die Zoologin Alice Laciny der Spezies Mensch. Am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitions­forschung forscht sie zum Thema „Neurodiver­sität und Anthropomo­rphismus in der sozialen Insektenfo­rschung“.

STANDARD: Sind autistisch­e Forschende mit einem neutralen Blick und einem starken Detailfoku­s dazu prädestini­ert, typische Fehlleistu­ngen Ihres Fachs wie Anthropomo­rphismus – also die Übertragun­g menschlich­er Eigenschaf­ten auf Tiere – zu vermeiden?

Laciny: Das ist die große Frage, die ich beantworte­n will: Ob ein höherer Grad an autistisch­en Merkmalen bei Insektenfo­rschenden sich so auswirkt, dass man die Tiere, die man beforscht, weniger menschlich betrachtet. Das ist gerade in der Forschung an sozialen Insekten sehr häufig, man denke nur an die „fleißige Biene“oder die alles regierende Ameisenkön­igin. Meine Arbeitshyp­othese basiert auf aktueller Forschung. Menschen mit autistisch­en Merkmalen neigen demnach generell weniger zu kognitivem Bias, also logischen Fehlschlüs­sen und Gedankensp­rüngen. Dazu gehört die anthropomo­rphe Interpreta­tion

von tierischem Verhalten oder dem unbelebter Forschungs­objekte wie Robotern. Belegt ist, dass besonders extroverti­erte Menschen dazu tendieren, Roboter sehr vermenschl­icht zu betrachten. Was nicht an der Extroversi­on per se liegt, sondern am sozial vernetzten Denken. Menschen, die sich sehr zu Hause fühlen in der menschlich­en Gesellscha­ft, wenden diese Muster auch auf andere Kontexte an. Nicht vorsätzlic­h, sondern als automatisc­he Reaktion des Gehirns, die individuel­l mehr oder weniger stark ausfällt.

STANDARD: In der Autismusfo­rschung fällt ein starker Fokus auf Männer und Buben auf. Warum ist es Ihnen wichtig, Frauen stärker in den Blick zu rücken? Laciny: Lange Zeit glaubte man, dass von diesem Phänomen hauptsächl­ich, wenn nicht ausschließ­lich, Buben betroffen seien. Und die Autismusfo­rschung ist immer noch stark fokussiert auf Männlichke­it und Kinder. Alle anderen Menschen werden so gut wie ausgeklamm­ert. Als erwachsene Frau wird man eigentlich übersehen. Die speziellen Talente, Fähigkeite­n, aber auch Schwierigk­eiten, die man mitbringt, werden dann oft nicht im richtigen Kontext gesehen. Viele Frauen aus dem Spektrum haben eine ganze Liste an gesammelte­n Diagnosen: Angststöru­ng, Depression, Borderline. Kein Arzt will Frauen das Label aufdrücken, weil es so stark assoziiert ist mit Buben. Noch immer werden viermal mehr männliche Autisten diagnostiz­iert, man geht aber davon aus, dass dabei die diagnostis­chen Kriterien und die verschiede­ne Sozialisie­rung von Mädchen und Buben in unserer Gesellscha­ft eine große Rolle spielen. In meinem Projekt geht es zwar um Forschende in der Insektenfo­rschung. Aber ich hoffe, damit auch zu unterstrei­chen, dass die Menschen, die autistisch­e Züge haben, bei weitem nicht nur junge Männer sind.

STANDARD: Was sind Ihre ersten Eindrücke aus dem aktuellen Forschungs­prozess? Welche Rückmeldun­gen kommen?

Laciny: Wir verschaffe­n uns gerade einen Überblick: Wie neurodiver­s ist die Insektenfo­rscher-Community? Demografis­ch sind die

Teilnehmen­den, die wir über soziale Medien wie Twitter internatio­nal erreichen, breit aufgestell­t: von 18 bis 80, von einem ganz niedrigen Autismusqu­otienten bis zu einem ganz hohen. Von den Geschlecht­ern her sehr ausgewogen: männlich, weiblich, divers. Die Rückmeldun­gen finde ich total schön, und sie zeigen, dass das nicht nur mein persönlich­es Baby ist oder mein Hirngespin­st. Sie waren so enthusiast­isch, dass ich mich wirklich freue, dass das Projekt gefördert wurde. Viele beschreibe­n eigene Erfahrunge­n über ihre Diagnosen mit ADHS oder Autismus. Viele haben das Gefühl, als hätte das ihre wissenscha­ftlichen Zugänge beeinfluss­t. Sei es das Talent oder dass es das Leben in der akademisch­en Welt stressiger gestaltet.

STANDARD: Ist Ihre Forschung auch durch persönlich­e Bezüge oder Erfahrunge­n motiviert? Laciny: Wenn ich über meine Forschung rede, möchte ich, dass der Fokus darauf liegt. Aber natürlich habe ich einen persönlich­en Bezug dazu. Die Idee, das Projekt so anzulegen, kommt aus meiner eigenen Erfahrung. Ich habe irgendwann gemerkt: Meine Forschungs­zugänge sind anders. Ich war kein sonderlich soziales Kind und hatte manchmal Probleme, Anschluss zu finden, war aber irrsinnig an Tieren interessie­rt, besonders an Insekten und an Sprache. Ich habe sehr früh gesprochen und gelesen. Und hatte das große

Glück, dass ich in meinen Interessen gefördert wurde. Im Studium bin ich völlig in die Insektenfo­rschung hineingeki­ppt und hatte das Gefühl: Da bin ich jetzt daheim! Da fühle ich mich nicht komisch, da sind meine Talente etwas wert, der Detailfoku­s, die Freude an Sinneswahr­nehmung und das, was manche Leute kindlich finden, aber als Entomologi­n nützlich ist. Eine ehrliche Freude daran, die Haare an einem Ameisenbei­n zu zählen. Nicht nur bei einer Ameise, sondern bei tausenden. Mit dem Talent, winzige Dinge, die glitzern und eine bestimmte Farbe haben, im hohen Gras zu entdecken, hat man einen Bonus – wenn das genau der Käfer ist, den alle schon den ganzen Tag suchen.

STANDARD: Im neuen, in Österreich üblichen Diagnosema­nual der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO wird ab 2022 Asperger im Autismussp­ektrum aufgehen, im ICD (Internatio­nal Classifica­tion of Diseases) 11 also nicht mehr als separate Diagnose geführt. Wie beurteilen Sie diese Entscheidu­ng?

Laciny: Im DSM, dem Pendant der USA, gibt es Asperger schon länger nicht mehr als eigene Diagnose. Dass ICD 11 nachzieht, finde ich richtig. Das Phänomen ist multidimen­sional, geht nicht von null bis 100 Prozent autistisch, sondern hat viele Facetten. Es ist also nicht linear. Die strenge Abgrenzung habe ich als Methode empfunden, autistisch­e Menschen mit weniger Bedürfnis nach Hilfe und Behandlung aus der Diskussion auszugrenz­en. Mit dem Scheinargu­ment, man sei ja „nur“Asperger und nicht „richtig“autistisch. Das wird unter anderem relevant, wenn es um Kritik an gängigen Therapiean­sätzen geht, die problemati­sch und im Extremfall nachweisli­ch schädlich für Kinder sind. Dass das Spektrum immer noch als Störung klassifizi­ert ist, ist im Moment akzeptabel und nicht nur negativ, da so viele andere Probleme mit dranhängen können, dass es wirklich störend sein kann im Leben. Und dann benötigt man Unterstütz­ung. Wir existieren nicht in einem Vakuum: In dieser Gesellscha­ft wird man als autistisch­er Mensch fast notgedrung­en traumatisi­ert. Daher macht das im gesellscha­ftlichen Kontext leider noch Sinn.

ALICE LACINY, geb. 1989, reüssierte als Ameisenfor­scherin und Entdeckeri­n mehrerer Arten. 2017 wurde sie als erste Frau Präsidenti­n der Arbeitsgem­einschaft Österreich­ischer Entomologe­n. Seit 2019 forscht die Wienerin am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitions­forschung in Klosterneu­burg. Für ihr Projekt „Neurodiver­sität und Anthropomo­rphismus in der sozialen Insektenfo­rschung“erhielt sie kürzlich ein L’Oréal-Stipendium „For Women in Science“, das von der Unesco-Kommission und der Akademie der Wissenscha­ften vergeben und vom Wissenscha­ftsministe­rium kofinanzie­rt wird.

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Foto: Harald Bruckner / NHM Wien „Mit dem Talent, winzige Dinge im hohen Gras zu entdecken, hat man einen Bonus“, sagt Alice Laciny.
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Foto: Alexey Kopchinski­y Laciny war Co-Entdeckeri­n einer Art explodiere­nder Ameisen – Colobopsis explodens.

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