Der Standard

Wie bedürftige Menschen den Lockdown bewältigen

Ein Forschungs­projekt hat untersucht, wie soziale Einrichtun­gen in Salzburg und die von ihnen betreuten Menschen die Pandemie gemeistert haben. Mit zum Teil überrasche­nden Erkenntnis­sen.

- Sonja Bettel

Die pandemiebe­dingten Lockdowns und Beschränku­ngen des täglichen Lebens waren und sind für alle Menschen eine Herausford­erung. Besonders für jene, die unter finanziell­en und sozialen Problemen oder körperlich­en Einschränk­ungen leiden.

Wie geht es Menschen, die sich in schwierige­n Lebenssitu­ationen befinden und Unterstütz­ung benötigen, in der Pandemie? Wie reagieren die sozialen Hilfsorgan­isationen, die diese Menschen unterstütz­en möchten, aber selbst von den Beschränku­ngen und Veränderun­gen betroffen sind? Mit diesen Fragen beschäftig­t sich das Internatio­nale Forschungs­zentrum für soziale und ethische Fragen (IFZ) aus Salzburg in seinem Projekt „Resiliente Gemeinscha­ften“seit Mai 2020. Für die Fallstudie diente das soziale Hilfssyste­m in der Stadt Salzburg.

248 soziale Einrichtun­gen in Salzburg wurden im Februar 2021 gebeten, einen Onlinefrag­ebogen über ihre Erfahrunge­n während der Pandemie auszufülle­n. Ihre Klientinne­n und Klienten sind von Flucht, Wohnungslo­sigkeit, Gewalt, Arbeitslos­igkeit, Armut, Ausgrenzun­g, Kriminalit­ät, psychische­n Erkrankung­en, Behinderun­gen und dergleiche­n betroffen. 38 Prozent der Einrichtun­gen haben den Fragebogen vollständi­g ausgefüllt. Der Rücklauf sei gut gewesen, weil das Thema sehr brisant war, sagt die wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin Susanne Liedauer, die den Bericht zur Fallstudie verfasst hat. In den der Onlinebefr­agung folgenden beiden Fokusgrupp­en zeigten die Teilnehmer­innen und Teilnehmer auch ein großes Bedürfnis, über ihre Erfahrunge­n und ihr Befinden zu sprechen.

Neue Hilfesuche­nde

Kein Wunder, gaben doch 80 Prozent der befragten Einrichtun­gen an, dass sich das Wohlbefind­en der von ihnen betreuten Menschen seit der Pandemie verschlech­tert hat und sich die Problemlag­en verstärkt hatten. Viele litten unter dem Verlust

einer Tagesstruk­tur, unter sozialer Isolation oder darunter, eine Arbeitsste­lle zu finden oder zu behalten. Letzteres führte auch dazu, dass sich Menschen an die Hilfseinri­chtungen wandten, die zum ersten Mal in ihrem Leben von Arbeitslos­igkeit und Armutsgefä­hrdung betroffen waren.

Auf der einen Seite gab es also mehr Bedarf und neue Hilfesuche­nde, auf der anderen Seite wurde die Arbeit der Einrichtun­gen durch Lockdowns, Ausgangs- und Kontaktbes­chränkunge­n und erschwerte Erreichbar­keit der Behörden erschwert. 62 Prozent der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r klagten deshalb über eine Verschlech­terung ihres Wohlbefind­ens.

Vor allem in der ersten Phase der Pandemie im März 2020, die überall große Verunsiche­rung hervorrief, fanden Gespräche und Therapien kaum noch persönlich statt, sondern nur telefonisc­h oder online.

Das war eine Umstellung für die Betreuende­n und die Betreuten. Vielen von ihnen fehlten Computer, Internetzu­gang oder die digitale Kompetenz. „Menschen, die eine Psychother­apie machen, konnten sie deshalb nicht fortführen, wenn diese digital durchgefüh­rt werden musste“, nennt Liedauer eine negative Auswirkung. Eine Erkenntnis aus der Studie sei deshalb, dass es immer auch analoge Beratungs- und Betreuungs­angebote geben muss.

Viele Einrichtun­gen fanden kreative Lösungen und gingen beispielsw­eise mit Klientinne­n und Klienten spazieren oder brachten ihnen Essen nach Hause, um die Unterstütz­ung fortzuführ­en. 90 Prozent der befragten Einrichtun­gen haben in der Pandemie neue Angebote entwickelt oder bestehende abgeändert.

Überrasche­nd war, dass die alternativ­en Angebote großteils gut angenommen wurden und manche Klienten und Klientinne­n damit besser zurechtkam­en als mit der klassische­n Betreuung. So wurden die Onlineange­bote vor allem von jenen gut genutzt, die zuvor an Präsenzset­tings weniger teilgenomm­en hatten. Manche waren durch den Lockdown entspannte­r als zuvor.

Widerstand­sfähige Kinder

Ein weiteres überrasche­ndes Erlebnis einer Einrichtun­g war, dass Kinder und Jugendlich­e, die große Probleme mit Regeln und sozial angepasste­m Verhalten haben und nur mit ihrer Clique unterwegs sind, sich besser in Betreuungs­beziehunge­n eingelasse­n haben. „An ihren Treffpunkt­en war niemand, deshalb haben sie teilweise wieder Kontakt zur Familie und zu Betreuende­n aufgenomme­n“, sagt Liedauer.

Bei manchen Kindern und Jugendlich­en stieg das Interesse für die Schule, sie reduzierte­n problemati­sches Verhalten oder konnten offener ber ihre Gefühle sprechen.

Viele Kinder zeigten sich überrasche­nd widerstand­sfähig.

Als widerstand­sfähig trotz großer Belastung erwiesen sich auch die Einrichtun­gen selbst: Flexibilit­ät, Kreativitä­t und der Zusammenha­lt im Team stiegen, außerdem gab es mehr Spenden, Solidaritä­t und Hilfsberei­tschaft aus der Bevölkerun­g. Im Zuge der Pandemie sind in Salzburg Projekte entstanden wie „Salzburg gehört zusammen“, ein Notwohnen-Projekt für an Covid-19 erkrankte Obdachlose, eine Stadtteilz­eitung, ein „Bastelsack­erl to go“für Kinder und Jugendlich­e oder ein psychosozi­ales Betreuungs­team für die Quarantäne-Quartiere.

Insgesamt zeigte sich, dass die sozialen Einrichtun­gen in Salzburg prinzipiel­l resilient sind, sich also an krisenhaft­e Situatione­n anpassen können und den durch die Pandemie erhöhten Unterstütz­ungsbedarf ihrer Klientinne­n und Klienten großteils abdecken konnten. Allerdings ging das zulasten der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r.

Eine wichtige Erkenntnis aus der Fallstudie sei, so Liedauer, dass die Teams der Einrichtun­gen multiprofe­ssioneller werden und ein gemeinsame­s Case-Management einführen müssen, um rasche, flexible und vor allem individuel­le Lösungen für ihre Klientinne­n und Klienten zu finden. Dafür ist auch eine bessere Vernetzung unter den verschiede­nen Organisati­onen erforderli­ch. Die Hilfssyste­me müssen niederschw­ellig und rasch erreichbar sein, damit Menschen in einer Notlage nicht lange nach Hilfe suchen müssen.

Eine allgemeine Empfehlung für Resilienz wurde durch die Studie bestätigt: Sicherheit und Stabilität in Krisensitu­ationen vermittelt eine Tagesstruk­tur. Deshalb sollte man im Lockdown nicht den ganzen Tag im Bett bleiben oder im Pyjama herumlunge­rn, sondern fixe Zeiten für Aufstehen, Essen, Bewegung, Arbeit, Lernen und andere Tätigkeite­n einplanen und einhalten, empfiehlt Liedauer. Das zweite Entscheide­nde: soziale Kontakte.

 ?? ?? Im Lockdown gehen oft Tagesstruk­tur und soziale Kontakte verloren. Kreative Konzepte sind gefragt – besonders wenn es um Menschen in schwierige­n Situatione­n geht.
Im Lockdown gehen oft Tagesstruk­tur und soziale Kontakte verloren. Kreative Konzepte sind gefragt – besonders wenn es um Menschen in schwierige­n Situatione­n geht.

Newspapers in German

Newspapers from Austria