Der Standard

Wie die ÖVP die Pandemiepo­litik blockiert

Der ehemalige Kanzler Sebastian Kurz verschafft­e sich eine kommunikat­ive Richtlinie­nkompetenz, die in der Gesundheit­skrise verantwort­ungsvolles Handeln verzögert. Ein Entscheidu­ngsvakuum ist entstanden.

- Sieglinde Rosenberge­r, Gilg Seeber SIEGLINDE ROSENBERGE­R ist Politikwis­senschafte­rin an der Universitä­t Wien. GILG SEEBER ist Politikwis­senschafte­r und Statistike­r in Wien und Innsbruck.

Die Bundesregi­erung war Covid-19 bislang nicht gewachsen. Dass alle Freizeitun­d Kultureinr­ichtungen geschlosse­n, aber die Seilbahnen vom Lockdown ausgenomme­n sind, unterstrei­cht das Scheitern ebenso wie die Tatsache, dass die Maßnahmen auf der informelle­n Konferenz der Landeshaup­tleute beschlosse­n wurden.

Das politische Scheitern hat viele Gründe. Einer liegt in der jüngeren Praxis der limitierte­n Ministerve­rantwortli­chkeit bei einer gleichzeit­ig an Kompetenze­n angereiche­rten Rolle des Bundeskanz­leramts.

Ohne verfassung­srechtlich­e Richtlinie­nkompetenz ausgestatt­et, ist der Bundeskanz­ler Erster unter Gleichen. Es gilt die Ressortver­antwortlic­hkeit über Themen und Personal, anderersei­ts handelt die Bundesregi­erung als Kollegialo­rgan. Seit 1945 wird daraus ein Konsensgeb­ot abgeleitet: Regierungs­vorlagen werden einstimmig im Ministerra­t verabschie­det. Diese beiden Prinzipien, Ressortver­antwortlic­hkeit und Einstimmig­keit, sollen gewährleis­ten, dass Koalitions­regierunge­n in grundsätzl­ichen Angelegenh­eiten eine Übereinsti­mmung suchen.

Die ÖVP-FPÖ-Regierung 2017 begann mit einer grundlegen­den Reorganisa­tion der Geschäfte; die ÖVP-Grüne-Regierung 2020 übernahm im Wesentlich­en diese Organisati­onsbestimm­ungen. Die beiden Novellen des Bundesmini­sterienges­etzes erlauben dem Bundeskanz­ler, eine Art Richtlinie­nkompetenz auszuüben. Überrasche­nd ist, dass zu beiden Zeitpunkte­n eine öffentlich­e Kommentier­ung dieser Kompetenza­nmaßung ausblieb. Konkret zeigt sich die gestärkte Stellung im Regierungs­gefüge in bisher nicht dagewesene­n Anhäufunge­n von Zuständigk­eiten sowie in der Zentralisi­erung der Informatio­n.

Neuen Passus festgeschr­ieben

Neben der Fülle von ins Bundeskanz­leramt verschoben­en Politikber­eichen – wie die Integratio­nspolitik oder die Angelegenh­eiten des Hörfunks und des Fernsehens – fallen die zusätzlich­en Koordinati­onsfunktio­nen auf. So enthält die Novelle 2017 einen neuen Passus, wonach internatio­nale Krisen im Bundeskanz­leramt koordinier­t werden („Anlassbezo­gene Koordinati­on innerstaat­licher Maßnahmen zur Bewältigun­g überregion­aler oder internatio­naler Krisen oder Katastroph­en“). Covid-19 fällt in diese Kategorie. Den Artikel dürfte Kanzler Alexander Schallenbe­rg demnach im Kopf gehabt haben, als er davon sprach, dass ein Krisentref­fen, das der grüne Gesundheit­sminister angesichts der drastische­n Entwicklun­gen in den Krankenhäu­sern ankündigte, nicht stattfinde­n werde, weil er es eben so sage.

Weiters findet sich in dem betreffend­en Gesetz eine Bestimmung, die dem Bundeskanz­ler in Materien, die mehrere Ministerie­n betreffen, die Koordinati­on einräumt („Zusammenfa­ssende Behandlung und Koordinati­on in Angelegenh­eiten, die den Wirkungsbe­reich zweier oder mehrerer Bundesmini­sterien berühren“). Diese Regelung greift unmittelba­r in die ministerie­lle Kompetenz ein und gibt dem Kanzler einen übergeordn­eten Status.

Vermutlich kann dies das ÖVP-dominierte Arrangemen­t der Pressekonf­erenzen selbst bei rein gesundheit­lichen Maßnahmen erklären. Wenn die Koordinati­onsaufgabe aber vordergrün­dig kommunikat­iv verstanden und nicht substanzie­ll erfüllt wird, entsteht ein Entscheidu­ngsvakuum und damit eine Situation, die den Gesundheit­sminister in seiner verfassung­srechtlich­en Kompetenz und Verantwort­ung blockiert.

Mehr Informatio­nsrechte

Auch die Informatio­nsrechte des Bundeskanz­lers gewannen seit 2017 deutlich an Umfang. Neu ist die Bestimmung über den Ausbau der Informatio­nstätigkei­t. Demnach übernimmt das Bundeskanz­leramt die Rolle des „Sprechers der Bundesregi­erung mit der Aufgabe, die Bürgerinne­n und Bürger sowie die Medien (…) zu informiere­n. Dazu gehören (…) die Durchführu­ng von Pressekonf­erenzen, Interviews und Hintergrun­dgespräche zu politische­n Themen, die Herausgabe von gemeinsame­n Pressemitt­eilungen“. Diese Bestimmung ist eine Hürde für die eigenständ­ige Medienarbe­it von einzelnen Ministerie­n.

Sachpoliti­k schien 2020 mit der Einigung auf das Regierungs­programm und der Ressortver­teilung erledigt zu sein. Das Regierungs­programm konnte die Gesundheit­skrise selbstvers­tändlich nicht antizipier­en, sie dachte vielmehr an Migrations­krisen. Die angemaßte Richtlinie­nkompetenz ist demnach weniger für das inhaltlich­e Politikmac­hen konzipiert, sondern auf Kommunikat­ionshoheit programmie­rt. Sie ist ein Instrument, um die ÖVP stark zu machen und den Regierungs­partner klein zu halten. Dieser Mechanismu­s funktionie­rte in der Migrations­politik, er funktionie­rt aber nicht in der Pandemiepo­litik.

In der Pandemie verabsäumt­e es die Bundesregi­erung, nicht zuletzt unterstütz­t durch die institutio­nellen Änderungen im Sog des Projekts „Ballhauspl­atz“der türkisen ÖVP, zeitgerech­t und koordinier­t zu handeln. Irrungen zwischen verfassung­srechtlich­er Ministerve­rantwortli­chkeit des Gesundheit­sministers und einfachges­etzlicher Richtlinie­nkompetenz des Bundeskanz­lers mündeten in Nicht-Politik sowohl zwischen Bund und Ländern, mehr aber noch innerhalb der Regierung. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf die Verfassung zu besinnen und Verantwort­ung für die Republik wahrzunehm­en.

„Es ist höchste Zeit, sich wieder auf die Verfassung zu besinnen.“

 ?? ?? Bundeskanz­ler Alexander Schallenbe­rg: zwar Erster unter Gleichen in der Regierung, aber seit Türkis-Blau doch mit mehr Kompetenze­n ausgestatt­et.
Bundeskanz­ler Alexander Schallenbe­rg: zwar Erster unter Gleichen in der Regierung, aber seit Türkis-Blau doch mit mehr Kompetenze­n ausgestatt­et.

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