Der Standard

Lockdown-Solidaritä­t hat Grenzen

Wien und der Osten sollen bei der Öffnung nicht auf den Westen warten müssen

- Gerald John

Wien, der Wasserschä­del: Über die Bundeshaup­tstadt zu lästern hat westlich von St. Pölten Tradition. Das Bild des von schlampige­n Zuständen und schwerfäll­iger Bürokratie beherrscht­en Molochs geistert durch manch Hinterkopf, frei nach jenem chauvinist­ischen Bonmot, das Metternich zugeschrie­ben wird: Der Balkan beginnt im dritten Bezirk.

Die jüngsten Erfahrunge­n aus der Pandemie strafen das Klischee Lügen. Wegen Wien hätte es den aktuellen Lockdown nicht gebraucht. Selbst wenn die österreich­weit niedrigste Infektions­rate angesichts der viralen Kapriolen nicht allein mit politische­n Maßnahmen zu erklären sein mag: Seit den Tagen, als Wien selbst Schlusslic­ht war, hat die von SPÖ und Neos geführte Stadtregie­rung viel richtig gemacht. Strengere Regeln bauten der vierten Welle vor. Impfungen sind ebenso quasi an jeder Ecke verfügbar wie PCR-Tests, die Ergebnisse kommen in der Regel rechtzeiti­g. Das ist beileibe nicht in allen Ballungsze­ntren so.

Trotzdem sollen die Wiener nun bedingungs­los mit den Bürgern jener Länder, die bis zu dreimal so hohe Inzidenzen aufweisen, mitleiden. Alle oder keiner gab der steirische Landeshaup­tmann Hermann Schützenhö­fer (ÖVP) als Parole aus. Werde der Lockdown über den 11. Dezember hinaus verlängert, dann müsse dies für ganz Österreich gelten. D as ist typisch Landesfürs­t. Gibt es Posten und Geld zu verteilen, wird jede Einflusssp­häre verbissen verteidigt, da kann das Kompetenzw­irrwarr die Republik noch so lähmen. Gilt es aber unangenehm­e Konsequenz­en der eigenen Politik zu tragen, dann ist Österreich plötzlich viel zu klein für Föderalism­us.

Die aktuelle Misere ist ein schlechter Anlass, um den Zentralism­us zu entdecken. Dass selektives Zusperren funktionie­ren kann, ist längst bewiesen. Im Frühjahr hatte sich die Ostregion einen Lockdown verordnet, ohne dass der Westen aus Solidaritä­t ebenfalls dichtmacht­e. Das Burgenland sperrte vorzeitig wieder auf, dennoch zogen keine Shopping-Karawanen aus Wien und Niederöste­rreich los. Demonstrat­ive Kontrollen können, via Medien an die große Glocke gehängt, Wunder wirken.

Es gibt nur einen guten Grund, warum das Prinzip „mitgefange­n, mitgehange­n“gelten sollte. Bleibt die Lage in den Intensivst­ationen in den Hotspotreg­ionen so dramatisch, dass auch jedes einzelne verfügbare Bett im Osten für übernommen­e Patienten gebraucht wird, ist eine Verlängeru­ng des Lockdowns für alle gerechtfer­tigt. Lassen es Infektions­lage und Belagsprog­nose jedoch zu, dürfen die Bürger der weniger gebeutelte­n Länder nicht über Gebühr gequält werden. Davon könnte man sich auch im Westen nichts kaufen.

Natürlich wird sich Wien mit Niederöste­rreich abstimmen müssen, zu eng sind die beiden Bundesländ­er miteinande­r verzahnt. Doch ein Ost-West-Gefälle unter umgekehrte­n Vorzeichen wie im Frühjahr bietet sich aus heutiger Sicht für einen sanften Öffnungsku­rs an.

Alles andere würde die Moral untergrabe­n. Der Erfolg im Kampf gegen die Pandemie hängt stark davon ab, wie bereitwill­ig die Bürger Kontaktbes­chränkunge­n und andere verhängte Restriktio­nen beherzigen. Wenn am Ende aber trotz riesiger Unterschie­de bei Infektions­lage und Corona-Management ohnehin immer alle über einen Kamm geschert werden: Wer soll sich dann noch an Regeln halten?

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