Der Standard

„Bin weder Heiliger noch Verbrecher“

Eigentlich wollte Sebastian Kurz nur zur Seite treten. Nun verlässt er die Politik ganz und hat damit viele überrascht. Nachfolgen soll ihm als Parteichef Karl Nehammer, der auch Kanzler werden soll. Das Regierungs­postenkaru­ssell dreht sich.

- Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, Markus Rohrhofer, Gabriele Scherndl, Colette M. Schmidt

Selbst manch langjährig­er Weggefährt­e erfuhr erst davon, als die Sache längst entschiede­n war und kurz bevor die ersten Medienberi­chte aufpoppten: Sebastian Kurz zog sich am Donnerstag überrasche­nd aus der Politik zurück. Der ehemalige Bundeskanz­ler kündigte zuerst intern seinen Rücktritt von allen politische­n Spitzenfun­ktionen sowie als Vorsitzend­er der Volksparte­i an. Schließlic­h trat er vor die versammelt­e Presse.

Der Schritt erstaunte viele, nicht nur Journalist­innen und Journalist­en, sondern auch den Koalitions­partner – mussten doch zumindest einige grüne Abgeordnet­e vom Rücktritt des Kurz aus der Kronen Zeitung erfahren.

Selbst innerhalb der ÖVP kam die Ankündigun­g überrasche­nd: Innerparte­ilich schloss man zwar schon seit geraumer Zeit nicht aus, dass Sebastian Kurz infolge der sogenannte­n Inseratena­ffäre irgendwann von sich aus alles hinschmeiß­en werde. Zu lange könnten die Ermittlung­en dauern, immer aussichtsl­oser erschien daher eine Rückkehr ins Kanzleramt. Allerdings, davon gingen Türkise in Hintergrun­dgespräche­n in den vergangene­n Wochen immer aus, werde noch einige Zeit ins Land ziehen, bis diese Einsicht auch beim Altkanzler selbst sickern werde. Am Ende sollte es doch schon früher so weit sein.

Nach zehn Jahren in der Welt der Politik lud Kurz gestern ein letztes Mal ins Springer-Schlössl im zwölften Bezirk, dort ist die ÖVP-Parteiakad­emie untergebra­cht. Auffällig war, dass keine einzige Ministerin und kein einziger Minister aus den Reihen der Schwarzen den Abschiedsw­orten ihres baldigen Ex-Chefs vor Ort lauschte. Im Oktober hingegen, als die Korruption­scausa aufkam, unterschri­eb noch die gesamte Regierungs­mannschaft eine Erklärung, laut der eine Bundesregi­erung nur mit Sebastian Kurz an der Spitze möglich sei.

Der Faktor Baby

Kurz formuliert­e seine Beweggründ­e, als er am Donnerstag gegen Mittag eine „persönlich­e Erklärung“abgab, so: Seine Leidenscha­ft für Politik sei zuletzt geschrumpf­t, seine „Flamme ein bisschen kleiner geworden“. Politik, so resümierte er, müsse mit 100 Prozent Begeisteru­ng gemacht werden, die sei bei ihm in den letzten Tagen, Wochen und Monaten aber weniger geworden. Zuletzt, beklagte er, sei es jedoch im politische­n Alltag vor allem um die Abwehr von Unterstell­ungen und Verdächtig­ungen gegangen.

Gründe für seinen Rücktritt nannte der 35-Jährige noch weitere – allen voran seinen Sohn, Konstantin, der am vergangene­n Samstag zur Welt kam. „So ein Baby kann man stundenlan­g anschauen und ist froh und glücklich darüber“, sagte der Jungvater. Die Geburt seines Sohnes habe sogar die zwei erfolgreic­h geschlagen­en Wahlkämpfe getoppt. Die Familie soll fortan ganz im Zentrum stehen, zum Jahreswech­sel tritt Kurz außerdem einen neuen Job an. Welchen, ist noch nicht bekannt. In der ÖVP munkelt man von einem internatio­nalen Topjob.

Kurz räumte auch Fehlentsch­eidungen seinerseit­s ein, sagte aber gleichzeit­ig :„ Ich möchte nicht behaupten, dass ich nie etwas falsch gemacht habe.“Er hielt außerdem fest: „Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher. Ich bin ein Mensch.“Und er sprach von einer Jagd auf seine Person. Viel konkreter wurde er dabei nicht,z wischenden Zeilen war aber klar, wen der damit meinte: Die Wirt schafts-und Korrupt ions staatsanwa­ltschaft, der Kurz des Öfteren„ rote Netzwerke“attestiert hatte, ermittelt seit Monaten gegen ihn – und zwar wegen Falschauss­age und Korrupt ions delikten. Ausgerechn­et an diesem Donnerstag wurde auch einÖVP Korrupt ions untersuchu­ngsausschu­ss in die Wege geleitet. Die Leitung des ÖVP-Klubs soll wieder an August Wöginger übergehen, in den nächsten Wochen werde er „eine geordnete Übergabe all meiner Funktionen sicherstel­len“, kündigte Kurz an.

Der kleine Koalitions­partner blieb am Donnerstag auffällig ruhig: Der

„So ein Baby kann man stundenlan­g anschauen.“

„Ich möchte nicht behaupten, dass ich nie etwas falsch gemacht habe.“

grüne Bundesspre­cher und Vizekanzle­r Werner Kogler bekundete „ganz, ganz großen“Respekt für die Entscheidu­ng. Am grünen Regierungs­team, so sagte Kogler auch, würden die jüngsten Entwicklun­gen nichts ändern. Wechsel stehen auf türkiser Seite hingegen nun einige an.

Personalro­chade

„Das hat in mir meine eigene Flamme kleiner werden lassen.“

Wie die Personalro­chade genau aussehen soll, wird beim Bundespart­eivorstand am Freitag diskutiert. Aus ÖVP-geführten Ministerie­n war am Donnerstag zu hören, dass man etwaige personelle Entscheidu­ngen jedenfalls bis Montag treffen wolle, da die Bevölkerun­g zurzeit kein Verständni­s für Selbstbesc­häftigung der Politik habe. Als Favorit für die Nachfolge als ÖVP-Obmann und Regierungs­chef gilt STANDARD-Informatio­nen zufolge Innenminis­ter Karl Nehammer.

Er würde damit Alexander Schallenbe­rg als Bundeskanz­ler ablösen, der in diesem Fall wieder ins Außenminis­terium zurückwech­seln würde. Sollte Nehammer tatsächlic­h zum Bundeskanz­ler erkoren werden, zählt Karoline Edtstadler dem Vernehmen nach als logische Nachfolger­in. Die Europa- und Verfassung­sministeri­n kennt das Innenminis­terium und die dortigen Mitarbeite­r gut. Der Richterin, die ihr Jusstudium als Alleinerzi­eherin bewältigte, nachdem sie schon mit 20 Mutter geworden war, trauen Wegbegleit­erinnen und Wegbegleit­er viel zu. Zudem sei sie in der Politik gewachsen. Die „harte Schule“sei für Edtstadler ihre Zeit als Staatssekr­etärin im Innenminis­terium unter Herbert Kickl gewesen.

Was gegen eine Innenminis­terin Edtstadler spricht: Die Juristin, so hört man, ist mit ihren jetzigen Agenden sehr glücklich.

Der gelernte Diplomat Alexander Schallenbe­rg stellte sein Amt als Kanzler am späten Donnerstag­nachmittag zur Verfügung. Was der alte und künftige ÖVP-Klubchef Wöginger zwischen den Zeilen im ORF schon zu Mittag ankündigte. Dass Schallenbe­rg die EUund Verfassung­sagenden übernehmen könnte, halten Insider eher für unwahrsche­inlich. Sollte er in seine Funktion als Außenminis­ter zurückkehr­en, muss eine neue Aufgabe für den derzeitige­n Außenminis­ter Michael Linhart gefunden werden.

Für die Innenminis­ternachfol­ge brachte der Kurier einen weiteren Namen ins Spiel, der schon mehrmals für einen Topjob in Wien im Gespräch war: Andreas Pilsl, Landespoli­zeidirekto­r in Oberösterr­eich. Pilsl selbst bestritt dies: „Da wissen andere mehr als ich, ich weiß von nichts.“

Der Kurier berichtete über eine mögliche Ablöse von Wirtschaft­sministeri­n

Margarete Schramböck, was ihre Pressespre­cherin dementiert­e. Auch der Posten der Kurz-Getreuen und Tourismusm­inisterin Elisabeth Köstinger soll wackeln. Zudem standen Gerüchte über einen Abgang von Finanzmini­ster Gernot Blümel im Raum. Gegen ihn ermittelt die WKStA ebenfalls. Das Schicksal des einst engsten KurzVertra­uten ist noch völlig unklar.

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Sehr kurzfristi­g lud am Donnerstag der Altkanzler zum Pressestat­ement ein.

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