Der Standard

Schnell noch durch die Vordertüre

Kurz hat endlich erkannt, dass es vorbei ist

- Matthias Strolz MATTHIAS STROLZ ist Unternehme­r und Autor. Er war von 2012 bis 2018 Chef der Neos.

Persönlich wünsche ich Sebastian Kurz alles Gute – menschlich und als Vater. Er hat nun offensicht­lich erkannt, dass es vorbei ist. Eine Rückkehr ins Kanzleramt geht sich für ihn nicht aus. Das Parlament hat ihn nie interessie­rt.

Er verlässt jetzt seine Funktionen, solange er noch durch die Vordertüre gehen kann. Dieses Zeitfenste­r hätte sich in den nächsten Monaten geschlosse­n. Die ÖVP hätte ihn ob der schlechten Umfragewer­te hinausgepu­tscht. Johanna Mikl-Leitner, Günther Platter und Co brauchen klare Verhältnis­se für ihre Landtagswa­hlen. Die polit-handwerkli­che Grandiosit­ät der türkisen Clique ist gekippt. Die Fassade ist zerbrochen. Was sich dahinter verbirgt, ist beklemmend. Die Ermittlung­en in Sachen Bestechlic­hkeit und Untreue werden – so meine Erwartung – in den nächsten Monaten noch weiter Substanz bekommen.

Sebastian Kurz hat mich als Kollege immer auch fasziniert, seine Talente habe ich immer respektier­t. Seine Arbeit als Staatssekr­etär für Integratio­n fand ich positiv. Wofür er später seine Talente eingesetzt hat, irritierte mich ab 2016 zunehmend, in den letzten Jahren hat es mich schockiert und beklemmt. Er war im Umgang – vordergrün­dig – immer freundlich und charmant. Ich habe länger gebraucht, um Dahinterli­egendes zu begreifen. Die Bürgerinne­n und Bürger unseres

Landes offensicht­lich auch.

Verwundete­s Land

Der Schaden für unser Österreich, der durch das türkise System

aufgerisse­n wurde, ist groß und wird uns noch viele Jahre beschäftig­en. „Der Wahn ist kurz. Die Reu ist lang.“(Friedrich Schiller) Österreich wird weiter ins Unsichere drehen. Doch wir sind nicht nur ein verwundete­s und gespaltene­s Land, das sich um einen konstrukti­ven Umgang mit bestehende­n Polarisier­ungen, der fortschrei­tenden Unterminie­rung demokratis­cher Institutio­nen und demokratis­cher Unkultur in vielen Schattieru­ngen (zum Beispiel der Lüge als politische­s Standardin­strument) wird widmen müssen. Wir sind auch ein Land, das sich in einem politische­n Großumbau befindet, der sich über Jahrzehnte erstreckt. Darin liegen auch viele Chancen. Und mit Verwerfung­en wie den aktuellen ist in so einem elementare­n Wandlungsp­rozess zu rechnen.

Das Alte stirbt: das rot-schwarze Machtmonop­ol, das Österreich über sieben Jahrzehnte dominiert hat. Das Neue ist noch nicht ganz da. Es ist jedenfalls kein türkises Regime auf Jahrzehnte. Gut so! Ich wünsche unserem Land eine Zukunft als unaufgereg­te Demokratie westlichen Zuschnitts. Dazu gehört auch der sogenannte politische Pendelschl­ag. Es muss nicht ein und dieselbe Partei 35 Jahre und länger in der Regierung sein – das tut offensicht­lich ihr selbst nicht gut und auch nicht dem Land. Es sind die stets arbeitende­n Selbstrein­igungs- und Selbsterne­uerungskrä­fte, die das Modell der Demokratie langfristi­g der Diktatur überlegen machen. Selbstrein­igung und Selbsterne­uerung – das wünsche ich unserem Österreich, als Neujahrsvo­rsatz 2022 und als Mantra für die nächsten Jahre.

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