Was von Kurz bleibt
Sebastian Kurz hing der Ruf eines Politikers an, dem es vor allem um die Macht an sich ging – und nicht um das, was er daraus machen könnte. Wird ihm das gerecht? Eine Bilanz von 38 Monaten Kanzlerschaft.
Es ist eine Zuschreibung, die sich in vielen Porträts findet: Sebastian Kurz, heißt es, sei der Prototyp des Politikers, dem es hauptsächlich um die Macht an sich gehe statt um den Inhalt. Auch wenn der gestrauchelte Star Politik gerne als Wettbewerb der Ideen definiert habe, urteilte der Politologe Peter Filzmaier in der ZiB 2, sei Kurz der Meister im Wettbewerb der Kommunikation und des Marketings gewesen.
Wird das dem 35-jährigen Ex-Regierungschef gerecht? Abgesehen von der Aufarbeitung der fragwürdigen Methoden seines Aufstiegs: Was bleibt von Kanzler Kurz?
Er selbst würde womöglich als Erstes antworten: mehr Geld für arbeitende Menschen. Falsch ist das nicht, denn tatsächlich fallen in seine Zeit massive Steuerentlastungen. Allerdings haben die meisten Regierungen irgendwann die Lohn- und Einkommenssteuer gesenkt. Ebenso regelmäßig fraß die kalte Progression, die trotz gegenteiliger Versprechen auch unter Kurz nicht abgeschafft wurde, die Effekte wieder auf.
Ein Novum sticht aber doch hervor. Markanteste türkise Idee ist der Familienbonus, der Eltern pro Kind um bis zu 1500 Euro, ab Mitte 2022 sogar um bis zu 2000 Euro im Jahr entlastet – ein halbwegs gutes Einkommen vorausgesetzt. Denn als Steuerfreibetrag greift der Bonus im Endausbau bei einem Kind erst ab 2000 Euro brutto im Monat voll.
Ob das Konstrukt gerecht ist, hängt von der Perspektive ab. Wer der Meinung ist, dass „Leistungsträger“per se zu viel Geld an den Staat abliefern, wird zustimmen – wer reichlich Lohnsteuer zahle, solle auch entsprechend entlastet werden. Entgegnen lässt sich, dass dem Staat damit nicht jedes Kind gleich viel wert ist. Doch bei aller Kritik: Der Bonus ist in der Mittelschicht wohl so populär, dass sich auch eine SPÖ-geführte Regierung mit der Abschaffung schwertäte.
Überhaupt war Kurz für die Sozialdemokraten kein dankbarer Gegner. Als WolfgangSchüssel-Klon, der eine beinharte neoliberale Agenda durchboxt, hat er sich nicht entpuppt. Zwar boten Steuerzuckerln für Unternehmer Angriffspunkte, doch Entlastung gab es auch für kleine Einkommen. Privatisierungen von Staatsbetrieben blieben ebenso tabu wie eine gröbere Pensionsreform. Rief die ÖVP früher auf Druck des Wirtschaftsflügels nach Einschnitten, war sie nun bei jeder Extraerhöhung dabei – ein Vermächtnis, das die PostKurz-Partei mit Bedacht auf die Glaubwürdigkeit nicht einfach entsorgen wird können.
Ein Beleg dafür, dass Kurz Politik allein am Maßstab der Popularität ausrichtete? So sehen das jene, die ihn für einen von Angst vor einem Umfragetief getriebenen Machtopportunisten halten. Seine Verteidiger preisen das Springen über ideologische Grenzen hingegen als Stärke, um Pattstellungen zu überwinden.
Kehrseite des Slogans von der Leistung, die sich lohnen müsse: Für jene, die im Verdacht der Arbeitsscheu standen, wurde es unter Kurz’ erster Regierung, jener mit der FPÖ, ungemütlicher. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat zwar zentrale Härten der Mindestsicherungsreform gekippt, doch auch danach blieben – je nach Ausgestaltung der Länder – Verschlechterungen übrig. Statt Mindeststandards gelten nun Höchstgrenzen.
Handfeste Machtverschiebung
Über einen weiteren Aufreger aus türkisblauen Zeiten lässt sich noch kein finales Urteil sprechen. Welche Einsparungen und anderen Effekte die Fusion der Krankenkassen am Ende bringt, wird sicherst herauskristallisieren; Rudolf An schober, Sozial minister in Kurz’ zweiter Regierung, qualifizierte die versprochene Patienten milliarde als Utopie. Handfest ist hingegen: Die Reform verschob die Macht in den Sozial versicherungen zu den ÖVP-lastigen Arbeitnehmer vertretern.
Aus dieser Zeit geblieben ist die Möglichkeit für Unternehmen, der Belegschaft ohne Mitsprache des Betriebsrates Zwölfstundentage und 60-Stunden-Wochen aufzuerlegen. Doch in der Praxis wurde daraus offenbar kein Massenprogramm, und die unter Türkis-Blau praktizierte Ignoranz der Arbeitnehmervertreter war nicht von Dauer. Seit dem Koalitionswechsel zu den Grünen sitzen die roten Sozialpartner wieder mit am Tisch.
In der neuen Konstellation blieb wenig Zeit für Dauerhaftes. Die Corona-Pandemie verlangte kurzfristiges Management. Dabei vollzog die ÖVP aber einen markanten Kurswechsel. Galten bisher Schuldenbremse und Budgetdisziplin als Maxime, regierte nun das Motto „Koste es, was es wolle“. Ob der entspannte Zugang zu Budgetdefiziten über die Krise hinausreicht? Die Sparmeisterattitüde von Finanzminister Gernot Blümel auf EU-Ebene ließ das Gegenteil vermuten.
Pflöcke in der EU eingeschlagen
Ähnlich stilisierte sich Kurz, als die EU im Vorjahrbe riet, wiem anden pan demie gebeutelten Volkswirtschaften im Süden auf die Beine helfen könnte. Mit Dänemark, Schweden und den Niederlanden bot Österreich im informellen Bündnis der sogenannten Frugalen Vier den spendableren Großmächten Deutschland und Frankreich die Stirn – mit Erfolg. Die Kriterien der Kreditvergabe wurden verschärft, die beiden Hauptnutznießer Italien und Spanien müssen genaue Rechenschaft ablegen. Auch Österreich selbst hat von Kurz’ Vorpreschen profitiert: Viel mehr Hilfsgelder als erwartet flossen nach Wien.
Bei seinem Leibthema schlug Kurz als Kanzler ebenso Pflöcke in Brüssel ein. Sein scharfer Kurs in Migrationsfragen gilt heute auch in der EU-Kommission als salonfähig.
Zelebriert hat Kurz die Partnerschaft mit dem mittlerweile ebenfalls abgetretenen israelischen Premier Benjamin Netanjahu. Zur Eröffnung der umstrittenen US-Botschaft in Jerusalem schickte das damals türkis-blaue Österreich als einziges westeuropäisches EU-Land seinen Botschafter. Zu Beginn der Pandemie berief sich Kurz direkt auf Netanjahus Regierung als Vorbild in der Bekämpfung des Virus. Als Israel im Frühjahr Krieg gegen die radikalislamische Hamas-Miliz führte, bezog Kurz anders als die meisten EU-Regierungschefs klar Position: Tagelang wehte die israelische Fahne auf dem Kanzleramt.
Kurz hat das Abstimmungsverhalten Österreichs in multinationalen Gremien deutlich verändert – und das vermutlich nachhaltig. Am deutlichsten wohl im Mai 2020, als Österreich mit Ungarn einen gemeinsamen EUAufruf gegen die israelischen Annexionsplänen im Westjordanland verhinderte.
Weichen stellungen wider Willen
Bleiben noch jene Marksteine, die Kurz eher zwangsläufig mitgesetzt hat. So sehr Experten auch den zu niedrigen Preis und andere Lücken im Konzept beklagen: Dass die beschlossene CO2-Besteuerung ein irreversibler Einstieg ist, lässt sich schwer von der Hand weisen. Künftige Regierungen werden dieses Rad kaum zurückdrehen können.
Durchgesetzt haben das natürlich die Grünen gegen viel Widerstand aus der ÖVP. Immerhin aber hat Kurz die Koalition im Wissen um diese Bedingung geschlossen. In Hintergrund gesprächen ließ er durch klingen, dass ihn der Pakt mit den Grünen auch deshalb reize, weil die ÖVP ein ökologisches Gewissen brauche. Wie viel davon bloß Imagepflege war, lässt sich allerdings kaum abschätzen.
Apropos widerwillig: Eine große Weichenstellung ist die vom VfGH erzwungene Legalisierung des assistierten Suizids. Wieder gibt es in der katholisch tradierten ÖVP Widerstand – doch auch hier trägt die türkise Regierungshälfte bis dato eine herzeigbare Regelung mit.
Eine andere Errungenschaft hat direkt mit Kurz’ Einsatz zu tun. Ob es nun auch um die Rein waschung des rechtenKoalit ions partners ging oder nicht: Es war die Regierung Kurz I, die über fünf Millionen Euro für die Errichtung der Anfang November in Wien eröffneten Namensmauer für die Shoa-Opfer freigab.
Schwerer fassbar ist das Erbe, das der türkise Stil hinterließ: die Brandmarkung der Wirt schafts-und Korrupt ions staatsanwaltschaft als politisch motivierte Jagd gesellschaft durch Kurz und seine Getreuen etwa. Ob dieses Verhalten das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz nachhaltig beschädigt hat, ist nicht absehbar.