Der Standard

„Kurz ist über sich selbst gestolpert“

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll REINHOLD MITTERLEHN­ER (65) war von 1991 bis 2017 für die ÖVP aktiv: im Gemeindera­t von Ahorn, ab 2000 im Nationalra­t, mehrfach als Minister, ab Ende 2014 als Parteichef und zuletzt als Vizekanzle­r.

„Ab Veröffentl­ichung meines Buchs gab es keinen Kontakt mehr zu Sebastian Kurz. Man kann klare Verhältnis­se auch im Negativen haben.“Reinhold Mitterlehn­er

Und plötzlich ist sein Nachfolger auch Ex-ÖVP-Chef: Reinhold Mitterlehn­er über Sebastian Kurz’ Auf- und Ausstieg, die Folgen für die Volksparte­i und das türkise „Team Ballhauspl­atz“sowie die Koalition mit den Grünen und die Politik insgesamt – und darüber, dass Klarheit manchmal auch keiner Worte mehr bedarf.

Die politische Geschichte des Sebastian Kurz kann nicht ohne Reinhold Mitterlehn­er erzählt werden. Im Sommer 2017 kam es zum Showdown an der ÖVPSpitze. Mitterlehn­er trat zurück, Kurz übernahm die Volksparte­i, färbte sie türkis und war im Dezember mit 31 Jahren Kanzler. Zwei Jahre später warf ihm sein Vorgänger in seinem mit Haltung betitelten Buch falsches Spiel und Intrigen auf dem Weg ins Kanzleramt vor. Ende 2021 ist Kurz als Kanzler und ÖVP-Chef Geschichte. Und jetzt?

STANDARD: Wie blicken Sie auf den Rücktritt von Sebastian Kurz? Ist da auch Genugtuung?

Mitterlehn­er: Es sind gemischte Gefühle. Im Wesentlich­en ist es für mich eine Bestätigun­g, dass sich mittelfris­tig ein Weg, bei dem Anspruch und Wirklichke­it nicht zusammenpa­ssen und der hauptsächl­ich auf große Ansagen ausgericht­et war, von denen außer Inszenieru­ng wenig übrig geblieben ist, nicht ausgeht – und dass man bestimmte demokratis­che, auch medienpoli­tische, Regeln einhalten muss.

Standard: Standard: Was wird von Kurz, dem ÖVP-Chef und Bundeskanz­ler, bleiben – politisch, aber auch was die politische Kultur angeht?

Mitterlehn­er: Bleiben wird die Erinnerung – und das ist wahrschein­lich das, was er anstrebt –, dass Kurz die ÖVP in lichte Höhen geführt und zwei fulminante Wahlsiege eingefahre­n hat, die ihm den Kanzler einbrachte­n. Aber was wurde damit erreicht? Im Endeffekt ist nicht einmal eine Regierungs­periode zustande gekommen, weil in vier Jahren zwei Rücktritte und eine Abwahl stattgefun­den haben. Der Erfolg war also nicht nachhaltig. Daneben ist auch die Frage des Wie relevant: Die Wahlerfolg­e waren insbesonde­re eine großartige Marketing- und Kommunikat­ionsleistu­ng, jedoch unter Einsatz von manipulati­ven Instrument­en wie getürkten oder zurechtges­tutzten Meinungsum­fragen. Damit manipulier­t man auch die Bevölkerun­g, und das ist aus meiner Sicht im Sinne einer politische­n Verantwort­ung schwer problemati­sch. Die weitere Frage stellt sich aber auch auf der Metaebene, ob es nicht notwendig ist, faktenorie­ntiert und wissenscha­ftsbasiert die richtige Politik zu machen, siehe auch beim Thema Pandemie, und die dann populär zu machen, anstatt etwas Populäres anzukündig­en, aber dann, wenn es schwierig wird, nichts oder nur wenig umzusetzen. Etwa durch tatenloses Abwarten bei genau diesem Thema, bis wir wieder im Lockdown waren.

Standard: Was bleibt sachpoliti­sch von Kurz?

Mitterlehn­er: Ganz sicher hat er in der Migrations­politik die Weichenste­llung wesentlich so beeinfluss­t, dass Österreich einen restriktiv­en Flüchtling­skurs im Land, aber auch in Europa propagiert und teilweise durchgeset­zt hat. Er hat das Pendel allerdings zu weit nach rechts schwingen lassen und einen Rechtsruck in der Bevölkerun­g, etwa im Umgang mit den Kindern von Moria, zustande gebracht.

Standard: Apropos Rechtsruck, der ja auch viele Stimmen gebracht hat: Wie hat Kurz als ÖVP-Chef die Matrix der Partei inhaltlich verschoben? Braucht es eine Neupositio­nierung?

Mitterlehn­er: Seine Aktivitäte­n sind nicht nur auf die Flüchtling­spolitik einzugrenz­en. Was den Wirtschaft­sstandort betrifft, ich spreche von der Flexibilis­ierung der Arbeitszei­t, aber auch Themen wie der Steuerentl­astung, hat er im Großen und Ganzen schon einen richtigen Weg aufgezeigt, auch wenn der auf halber Strecke hängengebl­ieben ist. Bei der Steuerrefo­rm ist im klimapolit­ischen Bereich zu wenig passiert, und auf der anderen Seite wird die kalte Progressio­n nicht einmal ansatzweis­e abgegolten. In der Migrations­politik wird unter Nehammer wohl keine Aufweichun­g erfolgen. Ich glaube sogar, dass das von der Bevölkerun­g im Wesentlich­en mitgetrage­n wird, denn im Endeffekt gab es in ganz Europa einen Rechtsruck. Worum es für die ÖVP gehen wird, ist die soziale Frage: Bin ich hauptsächl­ich für die Eliten und die Wirtschaft zuständig oder auch für diejenigen, die jetzt durch Inflation und Pandemie geschädigt werden? Die Regierung sollte sich auch der Pensionsth­ematik stellen. Wahrschein­lich am dringendst­en ist die Reform des Gesundheit­ssystems, auch was die Pflege und Entlohnung in diesem Bereich betrifft.

Standard: Ist Karl Nehammer, der ÖVP-Chef und Kanzler wird, jetzt die richtige Person?

Mitterlehn­er: Nehammer passt auf das Profil, das gesucht wurde: Wer ist in der Partei gut verankert, wer hat Regierungs­erfahrung und ist am wenigsten durch die Vorgeschic­hte belastet? Viel interessan­ter ist die Frage, wie sich die Partei ausrichten wird. Sie steht vor dem Problem, dass man die Vollmachte­n, die man Kurz gegeben hat, jetzt de facto wieder zurücknimm­t und so wieder die alte Problemati­k, die ich schon erlebt habe, entsteht: nämlich dass die Länder die Bundespart­ei quasi wie ihre Repräsenta­nz in Wien verstehen, was die Handlungsf­ähigkeit erneut einengt.

Standard: Kurz ist weg, und die alte ÖVP samt mächtigen Ländern und Bünden ist wieder zurück?

Mitterlehn­er: In dem Augenblick, in dem auf Bundeseben­e alles implodiert, ist die faktische Handlungsf­ähigkeit nur durch die Länder da. Daher sind Vollmachte­n, die auf dem Papier bestehen, jetzt eigentlich wertlos. Man hatte eine Hybridpart­eiorganisa­tion: In Wien hat eine kleine Gruppe alles dominiert, inhaltlich, kommunikat­iv, und die Länder und Bünde haben die Funktionär­e gestellt und mit ihren Beiträgen die Bundespart­ei auch mitfinanzi­ert. Nur mit der Problemati­k, dass das ganze Vehikel in dem Moment, in dem ein Teil nicht mehr funktionie­rt, insgesamt gefährdet ist.

Standard: Nach Kurz fielen noch am selben Tag dominoglei­ch auch Kanzler Alexander Schallenbe­rg und Finanzmini­ster Gernot Blümel. Notwendige­r Reinigungs­prozess für einen Neustart?

Mitterlehn­er: Wenn die ÖVP in Zukunft reüssieren will, dann muss man sich den Realitäten stellen, und es muss eine bestimmte Ehrlichkei­t eintreten, die damit beginnt, dass man alle, die jetzt mit Verfahren belastet sind, aus dem System entfernt. Wenn man einen Neuanfang will, wird man im Endeffekt alle aus dem Planungste­am des Systems Kurz, das „Team Ballhauspl­atz“, nicht mehr in der Politik beschäftig­en können.

Standard: Die Opposition fordert Neuwahlen. Sind die ÖVP-Umbauten ein Grund dafür?

Mitterlehn­er: Früher oder später wird sich die Frage stellen, ob die Regierung noch handlungsf­ähig ist. Themen wie die von Ministerin Gewessler angezogene Problemati­k des Lobautunne­ls zeigen, ob man noch in der Lage ist, Probleme gemeinsam auszudisku­tieren und dann auch zu vertreten. Mir haben da jetzt zum Beispiel bei der Präsentati­on besprochen­e Alternativ­ansätze gefehlt. Das wird man auch bei anderen Themen sehen. ÖVP und Grüne werden sich bemühen, denn niemand von den beiden kann Interesse daran haben, dass die Koalition jetzt gesprengt wird, aber natürlich sind die Handicaps und das gegenseiti­ge Misstrauen nicht weniger geworden.

STANDARD: Kurz sprach bei seinem Abschied auch vom „Gefühl, gejagt zu werden“. Die KurzAnhäng­erschaft nennt meist die WKStA, dann gleich „die Medien“und natürlich die Opposition.

Mitterlehn­er: Von dem halte ich sehr wenig, weil die Medien und auch die WKStA im Wesentlich­en nichts anderes machen als ihre Arbeit. In Wirklichke­it traut sich im ÖVP-Bereich niemand einzugeste­hen, dass an der jetzigen Situation alle Beteiligte­n ihren eigenen Anteil haben. Um den zu erkennen, brauche ich gar keine Staatsanwa­ltschaft, das kann ich anhand der Chats beurteilen, dass demokratis­che Spielregel­n nicht eingehalte­n wurden: bei den Postenbese­tzungen, beim Schreddern und Verweigern von Unterlagen für den U-Ausschuss, beim Torpediere­n eigener Regierungs­vorhaben im Familienbe­reich. Es gibt in ganz Europa keinen anderen Kanzler, der zumindest akzeptiert hat, dass mit getürkten Meinungsum­fragen politisch agiert und damit auch manipulier­t wird. Schon aus diesem Grund ist Sebastian Kurz über sich selbst gestolpert.

Standard: Gab es eigentlich nach seiner Machtübern­ahme zwischen Ihnen und Sebastian Kurz noch ein persönlich­es, privates Gespräch, oder gibt es da ohnehin nichts mehr zu sagen?

Mitterlehn­er: Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mein Buch Haltung veröffentl­icht habe, haben wir einige Male miteinande­r gesprochen. Ab dem Zeitpunkt gab es keinen Kontakt mehr, was ich durchaus verstehe. Man kann klare Verhältnis­se auch im Negativen haben.

 ?? ?? Nicht nur der Wahlsieg an sich zähle, sagt Reinhold Mitterlehn­er, inzwischen selbststän­diger Unternehme­nsberater, sondern auch die Frage des Wie.
Nicht nur der Wahlsieg an sich zähle, sagt Reinhold Mitterlehn­er, inzwischen selbststän­diger Unternehme­nsberater, sondern auch die Frage des Wie.

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