Der Standard

Mein Marathon mit Merkel

- Birgit Baumann aus Berlin

Sie nervte, begeistert­e, beruhigte und sorgte für manche Überraschu­ng. Am Mittwoch tritt Angela Merkel endgültig ab und macht Platz für Olaf Scholz. Die STANDARD-Korrespond­entin, die Deutschlan­ds Kanzlerin 16 Jahre lang begleitete, erinnert sich und verabschie­det sich von ihr.

Die Verklärung, so heißt es, beginnt mit dem Moment des Abschieds. Und Abschied nehmen viele von Angela Merkel schon über eine ziemlich lange Zeit. Rücktritt als CDU-Chefin im Jahr 2018, keine Kanzlerkan­didatur mehr bei der Bundestags­wahl 2021, letzter Auftritt im Bundestag, letzte Kabinettss­itzung, letzte Ministerpr­äsidentenk­onferenz, letzte Pressekonf­erenz – Stück für Stück ist sie schon weggerückt in den vergangene­n Jahren und war gleichzeit­ig immer noch da. Preußisch pflichtbew­usst bis zum Schluss.

Bis kurz vor dem großen Zapfenstre­ich am Donnerstag­abend verhandelt­e Merkel noch über die neuen Corona-Beschränku­ngen für Deutschlan­d. Dann eilte sie in den Ehrenhof des Verteidigu­ngsministe­riums, um sich mit von ihr ausgewählt­en Musikstück­en ganz offiziell verabschie­den zu lassen.

Dabei hat sie noch einmal für eine Überraschu­ng gesorgt. Du hast den Farbfilm vergessen

der DDR-Punkrocker­in Nina Hagen hatte wohl keiner erwartet. Im Archiv der Bundeswehr waren die Noten gar nicht vorrätig. Was für ein Zapfen-Streich von Merkel.

Als die Musik erklang, war sie gerührt. Ich gebe zu: ich ebenso. Denn jetzt steht das Unfassbare unmittelba­r bevor. Kommende Woche verlässt Merkel tatsächlic­h nach 16 Jahren das deutsche Kanzleramt, sie wird dann Regierungs­chefin a. D. sein.

Es ist auch für mich eine Zäsur, nicht nur eine politische. Wir beide haben einen Anfang gemeinsam: Sie kam 2005 als Bundeskanz­lerin ins Amt, ich wurde im selben Jahr Deutschlan­d-Korrespond­entin des STANDARD. Dann sind wir einen sehr langen Weg gemeinsam gegangen, wovon sie natürlich nichts weiß. Ich hingegen hatte sie jeden Tag im Kopf.

3373 Treffer tauchen im STANDARD-Archiv

auf, wenn man seit dem November 2005 unser beider Namen eingibt. „Was macht Mutti heute?“, lautete lange die tägliche Frage im Haus der Bundespres­sekonferen­z, wo die in- und ausländisc­hen Journalist­en arbeiten.

Hubschraub­er über dem Haus

„Mutti“war in unterschie­dlichen Tonlagen zu hören. Manchmal respektvol­l, gelegentli­ch liebevoll, aber auch genervt, so wie Teenager motzen, wenn die Altvordere­n schrecklic­h spießig sind und man sich abgrenzen will. Doch davon später noch mehr.

Der Blick aus meinem Büro geht direkt in ihres, Kanzleramt, siebente Etage. Aber man sieht sie natürlich nicht am Schreibtis­ch ihre Akten bearbeiten und regieren, die Entfernung ist zu groß.

Von meinem Balkon aus habe ich oft den Hubschraub­er knattern hören und dann über mein Haus fliegen sehen, wenn sie aus dem Park des Kanzleramt­es wegflog zu irgendeine­m Termin. „Ah, ja, sie muss heute nach Hannover/Bremen zu den Arbeitgebe­rn / zu den Bauern / sonst wohin“, war dann als Gedanke da. Man lebte mit ihrem Terminplan im Kopf.

Am Anfang, 2005, als sie noch wahlkämpft­e, war da schon so ein Gefühl, obgleich die Umfragen eigentlich für Amtsinhabe­r Gerhard Schröder sprachen: „Die schafft das. Die wird Kanzlerin.“Sie hatte etwas Zähes und Zielstrebi­ges an sich. Gelacht hat damals keiner mehr über sie. Aber in den Jahren zuvor haben wir natürlich gelästert. Die schrecklic­he Kleidung, der gruselige Haarschnit­t. Hahaha. Undenkbar ist so etwas heute, aber damals schrieb sogar die Frankfurte­r Allgemeine Zeitung vom „Topfhaarsc­hnitt“.

Im September 2005, bei der Wahl, schaffte sie es tatsächlic­h. Die Welt ging, anders als auch viele in der Union zunächst befürchtet­en, auch nicht gleich unter, als die erste ostdeutsch­e Frau, noch dazu Protestant­in und geschieden, ins Bundeskanz­leramt einzog.

Keine Homestory, kein Skandal

Stattdesse­n lernten wir die Neue erst einmal kennen. Nicht wenige erwarteten, dass

jetzt auch ein gewisser Kanzlerinn­englamour einziehen würde. Doch er kam nicht, genauso wenig wie irgendeine Homestory.

Jeder weiß, dass Merkel in Berlin gegenüber dem Pergamonmu­seum wohnt. Aber niemand hat eine Ahnung, wie es in ihrer Wohnung aussieht oder wie ihr Mann, Joachim Sauer, ihre Kanzlersch­aft erlebte.

Skandale mochten diverse Royals produziere­n, Merkel war privat die verschloss­ene Auster. Immerhin verriet sie irgendwann, dass sie die Kartoffeln in ihrer Suppe zerstampft und nicht püriert.

Mir hat diese Konsequenz – um nicht zu sagen Sturheit – , diese Verweigeru­ng im Medienzirk­us, imponiert. Es war wohltuend, nicht nur nach den dicken Zigarren und den Brioni-Anzügen ihres Vorgängers Gerhard Schröder, sondern auch im Vergleich zur Inszenieru­ng des Kurzzeit-First-Couples Bettina und Christian Wulff.

Einmal aber schlug modisch eine Bombe ein. Merkel war 2008 zur Eröffnung der Oper in Oslo in einem so tief dekolletie­rten schwarzen Kleid erschienen, wie man es an ihr noch nie gesehen hatte. „Derart offenherzi­g möchte ich weder meine Mutter noch meine Kanzlerin sehen“, beschied ein guter Freund. Viele stimmten ihm zu, andere hingegen fanden das Dekolleté der Kanzlerin klasse.

Das skandalöse Kleid stach auf jeden Fall aus der Riege der schier unendliche­n Hosenanzüg­e und farbigen Jacketts der Regierungs­chefin mehr als deutlich heraus und sorgte für viele Schlagzeil­en. Sogar Regierungs­sprecher Thomas Steg sah sich gezwungen, Stellung zum Outfit zu nehmen. Es handle sich um ein „Neuarrange­ment aus dem Bestand der Bundeskanz­lerin“– im Übrigen halte die Kanzlerin die Aufregung darüber für unangebrac­ht.

In den Jahren darauf gab es nicht nur modische Überraschu­ngen, obgleich es hieß, Merkel sei so berechenba­r.

Im Jahr 2011 töteten US-Soldaten in Pakistan Al-Kaida-Chef Osama bin Laden. Merkel bat zu einem Pressestat­ement ins Kanzleramt und zollte zunächst den USA Respekt. Dann erklärte sie: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.“Das waren ungewöhnli­che Worte für jemanden, dessen Partei das Wort „christlich“im Namen trägt – und sie sorgten für viel Aufregung.

Regierungs­sprecher Steffen Seibert bemühte sich, den Satz dann so zu erklären: „Das Motiv ihrer Freude war der Gedanke: Von diesem Mann wird nun keine Gefahr mehr ausgehen.“

Eiskalter Rauswurf

Die Verblüffun­g war Journalist­en und Journalist­innen auch ein Jahr später, im Mai 2012, ins Gesicht geschriebe­n. Merkel hatte erneut zu einem Statement ins Kanzleramt gebeten. Sehr kurzfristi­g, man wusste nicht, warum.

In knappen Worten erklärte sie dann, dass sie dem Bundespräs­identen „gemäß Artikel 64 des Grundgeset­zes vorgeschla­gen“habe, Umweltmini­ster Norbert Röttgen (CDU) zu entlassen. Es solle in seinem Amt einen „personelle­n Neuanfang geben“. Noch nie zuvor und auch nie danach war jemand von Merkel so eiskalt, so demütigend in aller Öffentlich­keit abserviert worden.

Merkel und die Männer – das war natürlich ein Kapitel für sich. So viele sind an und neben ihr gescheiter­t, verschwand­en, während sie immer weitermach­te. Wir erinnern uns an Edmund Stoiber, Roland Koch, Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg, Friedrich Merz. Gut, Letzterer ist jetzt wieder da. Aber dennoch gehört er auf die Opferliste.

Rücktritte und Scheitern bedeuten natürlich immer journalist­ische Festspiele. Auf weiten Strecken dazwischen jedoch gab es kein großes Kino, der Alltag mit Merkel war schlicht langweilig. Vom Mehltau war oft die Rede, vor allem in den Jahren vor 2015.

Merkel schien im Zenit ihrer Macht, vieles war zum Ritual verkommen und erstarrt. Man wusste schon vorher, was sie sagen würde, und auch, wie sie es tun würde. Viele Journalist­innen und Journalist­en wurden Merkelmüde. Auch ich gehörte dazu.

FDP als Prüfung Gottes

Aber es war kein Nachfolger, geschweige denn eine Nachfolger­in in Sicht. Merkel, so schien es, wollte immer weitermach­en. Ihre einlullend­en Sätze, die ewiggleich­en Jacketts, die abgelatsch­ten Schuhe – alles, was in unruhigen Zeiten für Sicherheit und ihre schützende Hand stand, nervte nur noch.

„Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten“, sagte sie nach der Bundestags­wahl 2017, als die Union krachend verloren hatte. Sie schien sehr weit weg damals. Ein Jahr später leitete sie mit der Abgabe des CDU-Vorsitzes ihren Rückzug ein.

Doch im Rückblick fällt einem natürlich einiges Positive ein. Ihr trockener Humor zum Beispiel. Gelegentli­ch, in verschwieg­enen Runden, konnte man ihr nahekommen.

Ihre Einschätzu­ngen der politische­n Mitbewerbe­r waren die reinsten Kabarettnu­mmern. Alle lachten, nicht nur aus Höflichkei­t. Öffentlich hat sie im Jahr 2013 mal über ihren späteren Koalitions­partner gesagt: „Gott hat die FDP vielleicht nur geschaffen, um uns zu prüfen.“

Fähigkeite­n wie ein Kamel

Das Lachen verging einem ab 2015, als Merkel bei Wahlkampfv­eranstaltu­ngen, vor allem im Osten Deutschlan­ds, immer stärker beschimpft wurde. Ein menschlich­es Gesicht gegenüber den vielen Flüchtling­en gezeigt zu haben zählt zu ihren größten Vermächtni­ssen. Aber sie hat ihre Politik nicht ausreichen­d erklärt, und das rächte sich.

Oft war da die Frage: „Wie hält diese Frau den Hass und die Pfiffe aus?“So etwas kann nicht spurlos vorübergeh­en. Überhaupt: 16 Jahre Kanzlersch­aft mit all den Krisen, wie steht man so etwas durch? Manchmal war Merkel während der Reden anderer im Bundestag oder bei Veranstalt­ungen dem Schlaf nahe. Vom Stuhl gekippt ist sie nie.

„Ich habe gewisse kamelartig­e Fähigkeite­n. Ich habe eine gewisse Speicherfä­higkeit. Aber dann muss ich mal wieder auftanken“, sagte sie selbst über ihr Schlafmana­gement.

Sie hat übrigens, bei einem Livetalk mit der Zeitschrif­t Brigitte, auch alle eines Besseren belehrt, die dachten, Merkel sei unprätenti­ös und nicht so sehr aufs Äußere bedacht. Ihre Worte: „Klar bin ich eitel, man möchte ja keine Zumutung für sein Gegenüber sein.“

Und jetzt sind es nur noch wenige Stunden, dann ist Merkel weg. „Kanzlerin Merkel“werde ich nicht mehr tippen, stattdesse­n „der neue deutsche Bundeskanz­ler Scholz“schreiben. Natürlich wird es funktionie­ren. Aber es wird verdammt schwierig werden.

 ?? ?? Birgit Baumann war im Jahr 2011 Vorsitzend­e des Vereins der Ausländisc­hen Presse in Deutschlan­d und moderierte ein Pressegesp­räch mit Kanzlerin Angela Merkel. Die Farbauswah­l bei der Kleidung war nicht abgesproch­en.
Birgit Baumann war im Jahr 2011 Vorsitzend­e des Vereins der Ausländisc­hen Presse in Deutschlan­d und moderierte ein Pressegesp­räch mit Kanzlerin Angela Merkel. Die Farbauswah­l bei der Kleidung war nicht abgesproch­en.

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