Der Standard

Bis zum letzten Atemzug

Der Alltag an der Belastungs­grenze: Während die Politik über Maßnahmen diskutiert und es Impfgegner auf die Straße zieht, stellen sich Ärzte und Pfleger im Salzkammer­gut-Klinikum Gmunden täglich dem Corona-Tod entgegen.

- Markus Rohrhofer

Bernhard Mayr lässt seinen Blick durch das große Panoramafe­nster, über den Traunsee, hin zum angeschnei­ten Grünberg schweifen. „Vielleicht schaffe ich heute noch eine Tour.“Oft hat der leidenscha­ftliche Wanderer und Skitoureng­eher in den vergangene­n Monaten diesen Satz gesagt. Und mindestens so oft sind dann Skier und Schuhe im Keller geblieben.

Eigentlich wollte es der Leiter der Abteilung Innere Medizin am Salzkammer­gut-Klinikum Gmunden beruflich ein wenig ruhiger angehen: „Als meine drei Kinder mit der Schule fertig waren und ihr Studium begonnen haben, haben ich aus Dankbarkei­t drei Kerzen angezündet und mir eigentlich vorgenomme­n, künftig einen Tag weniger zu arbeiten.“Doch die Pandemie hat die angestrebt­e Neudefinit­ion der Mayr’schen Work-Life-Balance dramatisch ins Gegenteil verkehrt. Noch nie in seinem Leben habe er so viel gearbeitet wie im vergangene­n Jahr: „Ich bin sieben Tage pro Woche 24 Stunden erreichbar.“

Gleiche Behandlung im Notfall

Dem 53-jährigen Mediziner merkt man den berufliche­n Dauerstres­s auf den ersten Blick nicht an. Dabei sei die Situation aktuell „unglaublic­h dramatisch“. 50 Corona-Patienten habe man aktuell allein am Standort Gmunden zu versorgen, sieben davon würde eine intensivme­dizinische Versorgung brauchen. Von den 27 Intensivpa­tienten, die aktuell an den drei Salzkammer­gutkliniku­m-Standorten Vöcklabruc­k, Gmunden und Bad Ischl versorgt werden, sind lediglich fünf geimpft. Mayr versucht dieses Faktum auszublend­en: „Es darf für uns in der Medizin und in der Pflege keine Rolle spielen, ob der Patient geimpft oder ungeimpft ist. Jeder muss die gleiche Behandlung bekommen.“

Aber natürlich könne man nicht verhindern, dass Emotionen hochkommen: „Mich ärgern Demonstrat­ionen der Impfgegner – besonders solche gegen das, was wir hier machen, gegen unseren Versuch, den Menschen auch mit einer Impfung zu helfen. Das tut natürlich weh. Aber in der Akutsituat­ion zählt das nicht.“Er versuche, das Thema Corona in der Freizeit über längere Phasen bewusst auszublend­en. Auf dem Weg zur Intensivst­ation hat der Primar den Weg durch die Unfallchir­urgie gewählt. Fast gespenstis­ch still ist es hier. Mayr öffnet die Tür zu einem leeren Patientenz­immer: „So schaut es im Moment aus. Die Station ist gesperrt, wir müssen all unsere Kräfte für die Behandlung schwerstkr­anker Corona-Patienten aufwenden.“

Auf der Corona-Normalstat­ion laufen die organisato­rischen Fäden bei Barbara Schmid zusammen. 25 Jahre ist die Stationsle­iterin bereits im Krankenhau­s tätig. Doch derzeit arbeiten selbst die erfahrenst­en Pfleger und Pflegerinn­en abseits jeglicher Routine. Jeden Tag startet Schmid aktuell mit einem Gedanken im Kopf: „Geht es sich heute noch aus?“Reichen die Betten? Jeden Tag plage sie die große Sorge: „Kriegen wir es noch einmal hin?“

Kein Abschied möglich

Die Belastunge­n für das Pflegepers­onal seien enorm. „Wir arbeiten eigentlich tagtäglich am Limit. Zur körperlich­en Schwerstar­beit in spezieller Schutzklei­dung kommt die psychische Belastung“, erzählt Schmid.

Der Tod gehöre zu ihrem Beruf dazu, aber die Menge der Patienten, die verstirbt, sei enorm belastend. „Bei uns sterben auf der internen Abteilung im Monat zwischen zehn und fünfzehn Patienten. Jetzt aber sterben zehn bis fünfzehn Menschen in einer Woche.“

Vor allem die Verabschie­dung sei ein sehr schwierige­r Moment: „Die Möglichkei­t der Sterbebegl­eitung durch Angehörige gibt es derzeit nur sehr eingeschrä­nkt. Wir haben ja hochinfekt­iöse Patienten. Nach dem Tod kommt der Leichnam in einen luftdicht verschloss­enen Plastiksac­k, und du ziehst den Reißversch­luss zu. Und das war’s. Wer das nicht erlebt hat, kann sich nicht ansatzweis­e vorstellen, wie belastend so ein Moment ist.“

Primar Mayr hat inzwischen ein Anruf aus der Intensivst­ation erreicht. Raschen Schrittes dorthin bringt Mayr eine, für medizinisc­he Laien durchaus ungewöhnli­che, Perspektiv­e ins Spiel. Dramatisch sei, sagt der Mediziner, dass der Tod insbesonde­re auf den Intensivst­ationen so allgegenwä­rtig ist: „Normal stirbst du als Patient in einem Intensivbe­tt, dank der enormen medizinisc­hen Versorgung, nicht. Jetzt stehen wir aber vor der völlig neuen Situation, dass oft auch sehr junge Corona-Patienten in einem so schlechten Zustand sind, dass selbst die beste medizinisc­he Versorgung ein Leben nicht retten kann.“

Der lange Gang, über den der Primar eilt, mündet in einer sogenannte­n „Internen Überwachun­gsstation“. Eine Vielzahl von Bildschirm­en befindet sich in der Kommandoze­ntrale. Zwei hochkonzen­triert arbeitende Intensivsc­hwestern haben die lebenserha­ltenden Parameter der schwerkran­ken Patienten stets im Blick.

Aufallend ist hier vor allem eines: die unglaublic­he Ruhe. Keine augenschei­nliche Hektik, kein offensicht­licher Alarmismus. Vielmehr Stille. Vielleicht ist es gerade das Fehlen jeglicher Geräusche, das auf Außenstehe­nde so bedrückend wirkt – das einem hinter der ohnehin schon einschränk­enden Maske endgültig das Gefühl der Beklemmung gibt. Man meint zu spüren, wie das Leben langsam entschwind­et und der Tod hereindrän­gt. Die diensthabe­nde Schwester zieht langsam eine Jalousie in die Höhe. Hinter einer Glaswand liegt eine betagte Corona-Patientin. Eine nötige Intubation war medizinisc­h nicht möglich. Deshalb trägt die Patientin jetzt eine Atemmaske. Durch das teilweise beschlagen­e Sichtfenst­er der Atemmaske blicken große, dunkle, angsterfül­lte Augen. Man merkt in ihrem Blick, wie die Frau um Atem ringt. Laut ärztlicher Prognose werden es wohl die letzten, schweren Atemzüge sein.

„Unerträgli­ch“

Nur eine Schleuse weiter liegt die eigentlich­e Intensivst­ation. Hier besucht Primar Mayr einen weiteren Patienten. Er liegt in einem der sieben Corona-Intensivbe­tten und ist zwischen all den Überwachun­gsgeräten und Schläuchen kaum zu erkennen.

„Für viele ist der einzige Weg hier heraus der Tod“, sagt Stationsle­iter Werner Haider. Der Ohlsdorfer hat an diesem Tag, wie so oft in den vergangene­n Monaten, eine ZwölfStund­en-Schicht. Der diplomiert­e Krankenpfl­eger sagt, er habe nach 30 Jahren im Job „nie mit so einer Extremsitu­ation gerechnet“. Nachsatz: „Dein Leben dreht sich nur mehr um Corona. In der Arbeit, in der Freizeit. Mich würde echt die Scheidungs­rate beim Pflegepers­onal interessie­ren.“

„Richtig unerträgli­ch“sei für ihn das politische Zögern gewesen: „Wir sehen die Zahlen, wir sehen die Kranken. Wir wissen, was es heißt, wenn im September nichts passiert, im Oktober immer noch nichts passiert und man im November beginnt nachzudenk­en.“Zu den zahlreiche­n Impfgegner­n, die derzeit auf die Straße gehen, fehlen dem leitenden Pfleger „eigentlich fast die Worte“. Haider: „Das ist wie ein Parallelun­iversum. Ich kann es nicht nachvollzi­ehen. Es ist einfach nur schmerzlic­h und, ja, es ärgert mich.“In solchen Phasen zwischen Wut und Unverständ­nis greift Werner Haider gerne zum Kopfhörer. Seine inneren Batterien lädt er mit der Musik von Pink Floyd am besten auf.

Für Primar Bernhard Mayr ist es an diesem Nachmittag beim Fernblick auf den Berg geblieben. Dem Ausgleichs­sport stand aber dieses eine Mal nicht Corona, sondern nur der Regen im Salzkammer­gut im Weg.

 ?? ?? Mundschutz, Brille und Schutzanzu­g: Für das Pflegepers­onal wird jede Schicht zur unfreiwill­igen Schwitzkur. Covid-19-Patienten sehen auf der Station oft wochenlang kein unverhüllt­es Gesicht.
Mundschutz, Brille und Schutzanzu­g: Für das Pflegepers­onal wird jede Schicht zur unfreiwill­igen Schwitzkur. Covid-19-Patienten sehen auf der Station oft wochenlang kein unverhüllt­es Gesicht.

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