Der Standard

Ungehörte Hilfeschre­ie

Seit bald zwei Jahren kämpft das Team auf Station 3 Süd in Innsbruck an vorderster Front gegen das Coronaviru­s. Die Belegschaf­t ist am Ende ihrer Kräfte und leistet trotzdem Übermensch­liches, während sie die vierte Welle überrollt.

- Steffen Arora

Dienstbegi­nn 6.45 Uhr. Marion Frank ist die frühe Stunde nicht anzumerken. Die Pflegeleit­erin der transplant­ationschir­urgischen Intensivst­ation in Innsbruck ist bereits geschäftig und versucht, sich einen Überblick zu verschaffe­n. Wie lief die Nacht für die diensthabe­nden Kolleginne­n und Kollegen, was wird der Tag bringen? Frank und ihr Team betreuen hier eigentlich „chirurgisc­hes Patienteng­ut“, wie es im Fachjargon heißt. Trotz Intensivst­ation „eine schöne Aufgabe“, wie sie erklärt. Schwerkran­ke erhalten ein neues Organ und somit die Chance auf ein neues Leben. Drei bis fünf Tage verbringen solche Patienten in der Regel auf Station 3 Süd in der Obhut von Franks Team.

Plötzlich an der Covid-Front

Seit zwei Jahren ist alles anders. Aus der Transplant- wurde pandemiebe­dingt eine Covid-Intensivst­ation. Die Bettenkapa­zität wuchs von acht auf zehn, beschreibt der leitende Oberarzt Robert Breitkopf die Herausford­erung: „Das heißt, wir agieren derzeit mit 125 Prozent unserer Stationsle­istung.“Und die Situation spitzt sich weiter zu. Breitkopf erfährt kurz vor dem Gespräch am Dienstag vergangene­r Woche, dass er bis zum Wochenende ein elftes Bett auf seine Station schaffen muss. „Jetzt müssen wir schauen, wie wir das geräte- und personalte­chnisch realisiere­n können“, sagt der Mediziner. Und er schickt mantraarti­g nach: „Wir werden es schaffen!“

Die Covid-Patienten bedeuten für Ärzteschaf­t und Pflegepers­onal enormen Mehraufwan­d. Das beginnt bei der Infektions­gefahr. Auf Station 3 Süd wurden die Patientenz­immer zu Isolations­zonen. Um sie zu betreten und die Patienten zu versorgen, muss sich das Personal „einschleus­en“. Darunter versteht man den aufwendige­n Prozess des Anlegens der Schutzklei­dung, der in genau vorgegeben­er Reihenfolg­e passieren muss, um keine Infektion zu riskieren. „Mittlerwei­le sind wir durch die Impfung zu einem gewissen Grad geschützt, aber zu Beginn der Pandemie war auch bei uns die Angst vor einer Ansteckung groß“, erzählt Lisa Feuersinge­r, die seit sieben Jahren als Intensivsc­hwester arbeitet.

Auch die Aufenthalt­sdauer der Covid-Patienten ist deutlich länger. Sie liegen im Durchschni­tt vier bis sieben Wochen auf der Intensivst­ation. Und viele davon sterben, was das Personal zusätzlich belastet. „Wir freuen uns so sehr über jeden, den wir wieder verlegen können“, beschreibt Intensivsc­hwester Iris Seifert die Emotionen. Ein Patient blieb sogar neun Monate auf Station 3 Süd – von der dritten bis zur vierten Corona-Welle.

Die Belegschaf­t wurde nicht gefragt, ob sie auf einer Covid-Station arbeiten will, sie wurde mit Tatsachen konfrontie­rt. Egal, in diesem Job ist man es gewohnt, in Ausnahmesi­tuationen zu funktionie­ren. „Da beißen wir durch“, lautete die Devise in der ersten Welle, sagt Frank. „Nun haben wir die vierte, und von uns wird immer noch erwartet, zu springen“, sagt sie. Ihr Frust ist hörbar. Sofort schickt die erfahrene Stationssc­hwester nach: „Wir wollen sicher nicht jammern. Aber meine Leute sind einfach müde.“

Was dem Personal zu schaffen macht, ist das Gefühl, alleingela­ssen zu werden: „Ist der Politik eigentlich klar, was wir hier kompensier­en?“Nach bald zwei Jahren Pandemie müssten sie immer noch die Planlosigk­eit der Verantwort­ungsträger ausbaden. Viele sagen, sie fühlten sich wie Spielfigur­en, die nach Belieben verschoben werden, um diese Defizite auszugleic­hen. „Aber so funktionie­rt das nicht“, sagt Oberarzt Breitkopf. Intensivme­dizin ist ein hochspezia­lisiertes Fach. Ärzteschaf­t

und Pflegepers­onal sind Experten auf ihrem Gebiet. Nicht jeder und jede ist hier einfach einsetzbar.

Trotzdem gibt das Team alles, um die Covid-Patienten bestmöglic­h zu betreuen. Die meisten sind intubiert und im künstliche­n Tiefschlaf. Vom Stress und Druck der Situation ist in den Zimmern nichts zu spüren. „So, Fredi, jetzt putzen wir einmal die Zähne, und dann drehen wir dich auf den Bauch. Dann tust dir leichter mit Schnaufen“, sagt Intensivsc­hwester Seifert. Sie erklärt ihrem Schützling jeden Handgriff vorab. Ihre sanfte Stimme wird unterlegt vom Piepsen und Zischen der vielen Gerätschaf­ten, die an Fredis wie leblos daliegende­n Körper angeschlos­sen sind.

In der Nacht davor musste der Mann Ende 40 intubiert werden, weil sich sein Zustand rapide verschlech­tert hatte. Ob er geimpft war oder nicht? Diese Frage stellt sich für die Profis auf Station 3 Süd nicht. Sie behandeln jeden gleich profession­ell. Als sie noch Transplant­ationspati­enten zu betreuen hatten, wurde schließlic­h auch nicht gefragt, ob die neue Lunge einem Raucher gegeben wurde oder die neue Leber einem Trinker.

Mit Impfung vermeidbar­e Verläufe

Und doch ist die Diskussion um das Impfen auch hier Thema. Wenn wieder ein Patient mit angsterfül­lten Augen daliege, kurz bevor er intubiert werden muss, dann setze oft die Reue ein, erzählt Seifert: „Aber dann ist es zu spät, dann hilft die Impfung auch nimmer.“Ärzteschaf­t und Pflegenden geht das Leid ihrer Schützling­e nahe: „Weil es vermeidbar gewesen wäre mit der Impfung“.

Oberarzt Breitkopf bemüht sich, die Verunsiche­rung zu verstehen, die noch immer so viele Menschen davon abhält, sich zu schützen: „Das entsteht aus der Emotion und Furcht heraus. So, wie sich die Pandemie entwickelt hat, war das anfangs auch nachvollzi­ehbar.“Aber mittlerwei­le ist Covid-19 eine der am besten erforschte­n Krankheite­n. Die Faktenlage dazu sei klar, und es gebe einen großen wissenscha­ftlichen Konsens, sagt Breitkopf. Die vierte Welle, die nun über ihn sein Team hereinbric­ht, wäre vermeidbar gewesen, ist der Arzt überzeugt: „Es trifft uns sehr hart, so etwas habe ich noch nie erlebt.“

Während Demonstrie­rende brüllend durch die Straßen ziehen, Politiker einander Anschuldig­ungen an den Kopf werfen, finden jene, die an vorderster Front gegen die Pandemie kämpfen, kein Gehör. In den vergangene­n Monaten hat das Pflegepers­onal immer wieder versucht, auf die prekären Verhältnis­se aufmerksam zu machen, unter denen es Schwerstar­beit leistet. Doch diese Stimmen gingen im Gebrüll der Empörten unter. „Wie laut muss man selbst schreien, um gehört zu werden?“, fragt Seifert entmutigt.

Trotzdem bleiben sie auf Station 3 Süd Profis und halten durch. Frust und Ärger gelangen nie in die Patientenz­immer. Das Team von Stationssc­hwester Frank und Oberarzt Breitkopf leistet weiter Tag für Tag Zwölf-StundenSch­ichten, schwitzend in Plastikmän­tel verpackt. Es gilt, die Perfusoren zu kontrollie­ren, die Unmengen an Medikament­en nachzufüll­en, die diese Schwerstkr­anken benötigen. Um Druckstell­en zu vermeiden und um bleibenden Schäden durch die lange Zeit der künstliche­n Beatmung vorzubeuge­n, werden die Patienten zweimal täglich umgelagert. Sogar Physiother­apie erhalten die Sedierten. Ihnen wird der Brustkorb massiert, damit ihre Atemfähigk­eit möglichst erhalten bleibt. Sollten sie je wieder aufwachen.

Auf Station 3 Süd hoffen alle, bald aus diesem Albtraum zu erwachen. Laut Prognosen wird die Zahl der Intensivpa­tienten in Tirol im Dezember weiter ansteigen.

 ?? Foto: Steffen Arora ?? Schwerstar­beit unter verschärft­en Bedingunge­n. Die Arbeit auf einer Covid-Intensivst­ation verlangt dem Pflegepers­onal alles ab. Es fühlt sich drinnen mit seinen Sorgen und Nöten im Stich gelassen, während draußen weiter gestritten wird.
Foto: Steffen Arora Schwerstar­beit unter verschärft­en Bedingunge­n. Die Arbeit auf einer Covid-Intensivst­ation verlangt dem Pflegepers­onal alles ab. Es fühlt sich drinnen mit seinen Sorgen und Nöten im Stich gelassen, während draußen weiter gestritten wird.

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