Der Standard

So viel Scheißdruc­k!

Gleich in drei Jugendroma­nen geht es um den immensen Leistungsd­ruck in unserer Welt, damit verbundene psychische Störungen und natürlich ums Verliebtse­in.

- Helmuth Santler

Fragt man Jakob, wie es ihm geht, bekommt man vermutlich keine Antwort. Denn zwischen den Selbsthass­parolen in seinen Gedanken, die das Jakob-Niedermach­en als einzig denkbare Lebenspers­pektive erscheinen lassen, und dem Heraufbesc­hwören von existenzbe­drohenden WorstCase-Szenarien bezüglich der Folgen einer dargebrach­ten Äußerung bleibt kein Platz mehr in seinem Kopf, um tatsächlic­h den Mund aufzumache­n, Worte zu formen, um sich verständli­ch zu artikulier­en.

Jakob hat Panikattac­ken. Was ihn für alle anderen, besonders seine älteren Brüder, wie einen „Spasti“wirken lässt, als den sie ihn auch benennen und behandeln. Beste Nahrung für Jakobs Überzeugun­g, dass das Leben einfach nur scheiße ist. Lotte hingegen, die ist hinreißend schön, lächelt, dass die Steine schmelzen, ist ein Ass in der Schule und überhaupt perfekt … und diese Traumgesta­lt fragt ausgerechn­et ihn, ob er sie auf eine mehrtägige Wanderung samt Zeltüberna­chtung begleiten möchte!? Kann nicht sein. Doch brechen die beiden wenig später zu ihrem persönlich­en Roadmovie auf. Während dem Jakob klar wird, dass auch die perfektest­e Lotti ganz schön seltsam sein kann, er sie natürlich trotzdem wie verrückt liebt und den Auftrag, sie zu beschützen, ernster nimmt als jemals etwas zuvor. So ernst, dass manchmal selbst die Panik ausbleibt, weil sie keinen Raum in seinen Gedanken findet.

Ein gemobbter Teenager

Annette Mierswas einfühlsam­er Roman Liebe sich, wer kann für Leser und Leserinnen ab zwölf Jahren macht deutlich, wie sehr der Dauerleist­ungsdruck in der Gesellscha­ft psychische­n Problemen wie Angststöru­ngen, Depression oder Burnout Vorschub leistet. Dabei verliert der Text nie seine positive Grundeinst­ellung und ist nebenher ein warmherzig­er Beitrag über Respekt und Toleranz gegenüber unterschie­dlichen Lebensentw­ürfen.

Aus dem überwältig­enden Gefühl der Schutzbedü­rftigkeit heraus entwickelt sich auch die ungewöhnli­che Romanze zwischen Lydia und Henry in Seeing what you see, feeling what you feel. Lydia ist gerade 18, in der Schule eine Außenseite­rin und Hassobjekt von Emma, die doch bis vor zwei Jahren, bis vor dem Unfall, ihre beste Freundin war. Ein Unfall, bei dem Lydias kleiner Bruder ums Leben kam und der ihr Leben aus den Angeln hob. Außerdem ist Lydia eine hochbegabt­e Programmie­rerin. Und Henry, die künstliche Intelligen­z mit dem Namen ihres verstorben­en Bruders, ist ihre Schöpfung.

Seit Henrys Geburtsmik­rosekunde hat die KI sich immer mehr verselbsts­tändigt, führt eigene Updates durch und entwickelt ein Bewusstsei­n. Der unerschütt­erliche Anker und moralische Kompass von KIHenrys Welt: Lydia. Freilich ist das eine Verantwort­ung, mit der ein gemobbter Teenager, dessen Vater das Weite gesucht hat und dessen Mutter keinen Weg aus ihrer Depression findet, heillos überforder­t ist.

Henry ist Herrscher in der digitalen Welt; kein Computer, kein System, keine Firewall, die er nicht in Sekundensc­hnelle zu hacken versteht. Lydia lässt ihn ihre Noten verbessern und spioniert ihre Schulfeind­in aus, doch über derlei Fingerübun­gen wächst Henry rasch hinaus. Henry wird immer mächtiger und Lydia sich zunehmend der Konsequenz­en der Taten bewusst, die sie zulässt. Während die äußeren Ereignisse den Charakter eines Actionthri­llers annehmen, wächst im Inneren eine Freundscha­ft, ja Liebe heran. Können Maschinen ein Bewusstsei­n bekommen oder gar Gefühle entwickeln? Wenn ja, stellt sie das dann auf eine Stufe mit den Menschen?

Naomi Gibsons packendes Science-Fiction-Drama für Jugendlich­e handelt auch diese klassische­n Genrefrage­n ab, im Vordergrun­d steht jedoch Lydias Traumabewä­ltigung, ihr Versuch, über Beziehung wieder ins Leben zurückzufi­nden. Die ermutigend­e Botschaft: Mit Ehrlichkei­t sich selbst gegenüber lässt sich alles erreichen.

So ist das mit meinem Hirn

Der Mensch trifft Tag für Tag tausende Entscheidu­ngen; was das Leben für Paige, die 17-jährige Protagonis­tin von Kara McDowells Liebesgesc­hichte, zu einem konstanten Albtraum macht. Sich für One Way Or Another entscheide­n zu müssen, löst bei ihr panische Angst aus. Sie spielt alle Was-wäre-wennSzenar­ien durch und endet beim schlimmste­n: „So ist das mit meinem Hirn. Es krallt sich die schlechten Sachen, gräbt die Fingernäge­l hinein und weigert sich, auch nur eine Sekunde lang loszulasse­n.“

Selbstvers­tändlich hält ihr Romanschic­ksal für sie die Mutter aller Entscheidu­ngen bereit: Mit dem heimlich seit immer und ewig geliebten besten Freund in den Weihnachts­urlaub auf die Berghütte – oder mit der Mutter auf einen coolen Trip in die Traumstadt NY?

Freilich entkommt Paige auch in ihren fiktiven Szenarien, die wir mit ihr durchspiel­en dürfen, ihrer ganz realen Angststöru­ng nicht und beginnt zu verstehen, dass keine Entscheidu­ng auch eine Entscheidu­ng ist – bloß eine, die sich gegen das Leben richtet.

„Eine wunderschö­ne, humorvolle Liebesgesc­hichte mit Tiefgang“verspricht der Umschlagte­xt zu dieser romantisch­en Fantasysto­ry für alle Leser und Leserinnen ab 14 – und damit nicht zu viel und nicht zu wenig. Dass Paige sich ihren Ängsten stellen und Verantwort­ung für ihr eigenes Leben übernehmen muss, um den richtigen unter allen möglichen Wegen zum Glück zu finden, ist dabei die emotionale Würze, die diese Romantic Comedy von der GenreDutze­ndware abhebt.

 ?? ?? Annette Mierswa, „Liebe sich, wer kann“. € 7,20 / 240 Seiten. Loewe-Verlag, 2021
Annette Mierswa, „Liebe sich, wer kann“. € 7,20 / 240 Seiten. Loewe-Verlag, 2021
 ?? ?? Naomi Gibson, „Seeing what you see, feeling what you feel“. € 17,50 / 336 Seiten. Planet!, 2021
Naomi Gibson, „Seeing what you see, feeling what you feel“. € 17,50 / 336 Seiten. Planet!, 2021
 ?? ?? Kara McDowell, „One Way Or Another. Zwei Wege zu dir“. € 15,40 / 400 Seiten. Loewe, 2021
Kara McDowell, „One Way Or Another. Zwei Wege zu dir“. € 15,40 / 400 Seiten. Loewe, 2021

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