Einkaufen für alle
Menschen mit Behinderung stehen im Supermarkt vor vielen Hürden. Woran scheitert die Barrierefreiheit noch, und wie gestalten wir das Einkaufen künftig inklusiver?
Den Einkaufswagen schnappen, zuerst Obst und Gemüse hinein, dann Nudeln und Aufschnitt; aus der hintersten Reihe des Kühlregals das frischere Joghurt angeln. Getränke aufladen und zügig zur Kassa – ein normaler Einkauf für viele, doch nicht für alle Menschen.
Rund eine Million Menschen in Österreich ist dauerhaft in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, 40.000 Menschen sitzen im Rollstuhl. Mehr als 200.000 Personen haben Sehprobleme, 2000 sind blind. Von 157.000 Menschen mit Hörproblemen sind hierzulande knapp 9000 Menschen komplett gehörlos.
Supermärkte im Verzug
Eigentlich verspricht die Barrierefreiheit, diesen Menschen einen Lebensraum zu schaffen, in dem sie gleichberechtigt, selbstständig und unabhängig leben können. Seit 2006 gilt in Österreich das BundesBehinderten-Gleichstellungsgesetz (BGStG), das auch Bestimmungen zur Barrierefreiheit enthält. Der Verkauf von Waren oder Dienstleistungen muss hierzulande etwa barrierefrei sein, wenn sie öffentlich angeboten werden.
In den heimischen großen Supermärkten wie Billa, Spar oder Hofer ist dies aber – auch 16 Jahre nach dem Gesetzesbeschluss – noch nicht gegeben. Die Handelsriesen, die jährlich Milliarden umsetzen, geben auf ihren Websites an, dass die Märkte für alle Menschen „leicht zugänglich“und „benutzbar“sein sollen. Bis auf wenige Ausnahmen beschränkt sich die Barrierefreiheit in Supermärkten aber auf stufenlose Eingänge und breitere Gänge, andere Hürden bleiben.
Manche Produkte stehen weiterhin zu hoch oder zu tief im Regal und sind für Rollstuhlfahrer schwer erreichbar. Paletten oder Einkaufswagen blockieren deren Weg. Kunden mit Hörbehinderungen fällt es aufgrund des Lärms schwer, mit Angestellten an der Fleischtheke oder Kassa zu kommunizieren. Gehörlose müssen sich bei Fragen mit Angestellten verständigen können, was nicht immer problemlos möglich ist. Menschen, die schlecht sehen oder blind sind, fällt es schwer, sich im Supermarkt zu orientieren. Oft erkennen sie durch winzige Aufdrucke nicht, wie viel ein Produkt kostet, wie lange es haltbar ist oder worum es sich überhaupt handelt.
Verschiedene Lösungen können helfen, all diese Hürden künftig zu überwinden. Mittlerweile gibt es einige kostenlose Apps, die Blinde und Sehschwache beim Einkauf unterstützen. Eine davon ist Seeing AI, die Produktinfos erkennt und sie Betroffenen vorliest. Noch können Apps wie Seeing AI zwar nicht verlässlich anzeigen, um welches Produkt es sich handelt – Supermärkte könnten ihre Datenbanken, in der die Produktinfos liegen, aber für die Apps freigeschalten, um Preis, Ablaufdatum oder Inhaltsstoffe transparenter zu machen.
„Apps sind hoffentlich der Anfang eines digitalen Einkaufs vor Ort. Wo ich mir mit Unterstützung von KI helfen lassen kann“, sagt Daniele Marano, Experte für Barrierefreiheit bei der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen in Österreich. Er ist selbst sehbeeinträchtigt und weiß aus Erfahrung: Am Ende helfen Apps nur bedingt.
Mensch bleibt wichtig
„Es gibt Grenzen, die man mit Technologie bis zu einem bestimmten Grad kompensieren kann“, sagt Marano. Angestellte spielen daher ein zentrale Rolle, betroffenen Personen das Kauferlebnis zu vereinfachen.
„Wichtig wäre, dass die Personen, die in Supermärkten arbeiten, sensibilisiert sind auf den Umgang mit gehörlosen Menschen“, sagt Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes. Im Gespräch mit dem STANDARD übersetzt ein Gebärdensprachdolmetscher für sie. Sie wünscht sich, dass Angestellte beim Kontakt mit Gehörlosen nicht gleich in Schockstarre verfallen – sondern einfach einmal Stift und Zettel in die Hand nehmen und so zu kommunizieren. Selbsterfahrungstrainings helfen Angestellten etwa, ihren Supermarkt aus neuen Blickwinkeln zu sehen. Die Interessenvertretungen sind sich einig, dass Barrierefreiheit schon in der Bildung anfangen muss. „Das Beste ist, wenn unsere Kinder schon sensibilisiert werden und ein inklusives Leben erleben – und nicht, dass sie sich im Nachhinein diese Kompetenzen aneignen müssen“, sagt Jarmer.
Gesetze ausbaufähig
Noch reicht der gesetzliche Rahmen in Österreich nicht aus, um Menschen mit Behinderungen ein barrierefreies Einkaufen zu ermöglichen. Die Landesgesetze sind uneinheitlich. Betroffenen Personen ist es selbst überlassen, gegen Diskriminierung vorzugehen, wenn Orte oder Informationen nicht barrierefrei zugänglich sind. Selbst wenn sie Schadensersatz erhalten, bleibt die Barriere oft bestehen. Das Recht auf Herstellung von Barrierefreiheit muss Menschen daher einberaumt werden, schreibt der ÖZIV Bundesverband für Menschen mit Behinderung auf Anfrage.
Gemeinsam mit Betroffenen Lösungen zu erarbeiten und sich direkt beraten zu lassen hilft Supermärkten, ihre Barrierefreiheit zu verbessern. Gleiches gilt für ein inklusives Denken im Unternehmen. Bis dahin bleibt es Einstellungssache, wie Supermärkte Betroffene sehen und wie sie ihre Filialen gestalten. „Es ist immer eine Frage, wie man Menschen mit Behinderung sieht. Sind das Kundinnen und Kunden oder sind das Bittsteller“, sagt Jarmer. Die Barrierefreiheit erfordert in Supermärkten und bei Lebensmittelherstellern mehr Aufmerksamkeit. Schließlich muss jeder Mensch einkaufen, um sich zu besorgen, was er zum Leben braucht. „Wir sind noch nicht dorthin gekommen, dass Barrierefreiheit hier eine Selbstverständlichkeit ist“, betont Marano.