Mehr als nur ein weiteres Papierl
Die Koalition reagiert spät, aber klug auf den Pflegenotstand – doch Lücken bleiben
Vollmundigen Ankündigungen folgte lange Zeit wenig Handfestes: Allmählich wurde der ständige Protest gegen das Ausbleiben der Pflegereform für die Regierung peinlich. Selbst eine Pandemie und eine verunglückte Zwischenbesetzung im Sozialministerium sind keine Ausrede, um ein Schlüsselprojekt ewig zu verschleppen.
Zu sehr spüren Pflegebedürftige bereits die sich anbahnende Misere. Hauptproblem ist der Personalmangel. Obwohl die von der Demografie getriebene Alterungswelle noch gar nicht voll angerollt ist, können Pflegeanbieter mancherorts schon jetzt nicht mehr alle Heimbetten betreuen und nachgefragte Leistungen für zu Hause erfüllen. Dabei ist das Versorgungsniveau ohnehin schlechter als in den in puncto Wohlstand vergleichbaren nordischen Ländern, die weit mehr Geld für professionelle Pflege ausgeben. Österreich vertraute stets darauf, dass eh die Angehörigen – meist Frauen – einspringen.
Doch es lässt sich nicht behaupten, dass die Regierung die Hilferufe ignoriert habe. Was ÖVP und Grüne nun endlich vorlegten, geht deutlich über ein weiteres Papierl substanzloser Überschriften hinaus. Zwar ist auch in dem zwanzigteiligen Programm manches bloß eine vage Ankündigung – die versprochene Verbesserung der Arbeitsbedingungen von 24-Stunden-Betreuerinnen etwa muss noch verhandelt werden. Doch vieles hat Hand und Fuß, inklusive konkreter Umsetzungsfristen und finanzieller Dotierung.
Richtig und wichtig ist, dass die Bundesregierung die Einkommen der Pflegekräfte aufbessern will, sodass im Schnitt ein Monatsgehalt zusätzlich herausschauen soll. Auch die geplanten Unterstützungen für die Ausbildungszeit machen den Weg in diesen so wichtigen Beruf attraktiver. Einige wesentliche Änderungen im Detail – etwa die zusätzliche Entlastungswoche für alle Bediensteten über 43 Jahren – zeigen, dass die Konstrukteure der Reform den Betroffenen gut zugehört haben. Pflegende Angehörige dürfen ebenfalls mehr Unterstützung erwarten.
Lücken bleiben dennoch. Weil es mancherorts an flexiblen Angeboten wie etwa Tageszentren für Demenzkranke fehlt, sind Menschen zur Übersiedlung ins Heim gezwungen. Investitionen in den dringenden Ausbau bilden sich im koalitionären Konzept nicht ab.
Der Handlungsspielraum der Regierung ist da allerdings begrenzt, denn zuständig sind die Länder. Ob Österreichs Pflegesystem auf Vordermann gebracht wird, wird sich gerade auch beim nächsten Finanzausgleich im föderalistischen Gezerre um Geld entscheiden.
Unbegründet ist wohl die Befürchtung, dass das Gehaltsplus für Pflegende nur vorübergehend besteht. Dieser „Bundeszuschlag“ist zwar vorerst bis Ende 2023 befristet, weil die Koalition – so ihr Argument – unkompliziert Geld ins System pumpen wollte. Keine Nachfolgeregierung wird sich jedoch trauen, den Bonus danach ersatzlos zu streichen.
Um die Reform im Bund-Länder-Wirrwarr rasch auf den Boden zu bringen, fehlt aber noch eines: eine weitere Regierungsumbildung. Ein eigenständiger Sozialminister, der vom Corona-Management freigespielt ist, wäre – auch wegen der drohenden Armutskrise im Zuge der Teuerung – ein Gebot der Stunde. Doch weil das die Balance zwischen Türkis und Grün kippen würde, bleibt die koalitionsimmanente Machtlogik wohl ein unüberwindbares Hindernis.