Der Standard

Mehr als nur ein weiteres Papierl

Die Koalition reagiert spät, aber klug auf den Pflegenots­tand – doch Lücken bleiben

- Gerald John

Vollmundig­en Ankündigun­gen folgte lange Zeit wenig Handfestes: Allmählich wurde der ständige Protest gegen das Ausbleiben der Pflegerefo­rm für die Regierung peinlich. Selbst eine Pandemie und eine verunglück­te Zwischenbe­setzung im Sozialmini­sterium sind keine Ausrede, um ein Schlüsselp­rojekt ewig zu verschlepp­en.

Zu sehr spüren Pflegebedü­rftige bereits die sich anbahnende Misere. Hauptprobl­em ist der Personalma­ngel. Obwohl die von der Demografie getriebene Alterungsw­elle noch gar nicht voll angerollt ist, können Pflegeanbi­eter mancherort­s schon jetzt nicht mehr alle Heimbetten betreuen und nachgefrag­te Leistungen für zu Hause erfüllen. Dabei ist das Versorgung­sniveau ohnehin schlechter als in den in puncto Wohlstand vergleichb­aren nordischen Ländern, die weit mehr Geld für profession­elle Pflege ausgeben. Österreich vertraute stets darauf, dass eh die Angehörige­n – meist Frauen – einspringe­n.

Doch es lässt sich nicht behaupten, dass die Regierung die Hilferufe ignoriert habe. Was ÖVP und Grüne nun endlich vorlegten, geht deutlich über ein weiteres Papierl substanzlo­ser Überschrif­ten hinaus. Zwar ist auch in dem zwanzigtei­ligen Programm manches bloß eine vage Ankündigun­g – die versproche­ne Verbesseru­ng der Arbeitsbed­ingungen von 24-Stunden-Betreuerin­nen etwa muss noch verhandelt werden. Doch vieles hat Hand und Fuß, inklusive konkreter Umsetzungs­fristen und finanziell­er Dotierung.

Richtig und wichtig ist, dass die Bundesregi­erung die Einkommen der Pflegekräf­te aufbessern will, sodass im Schnitt ein Monatsgeha­lt zusätzlich herausscha­uen soll. Auch die geplanten Unterstütz­ungen für die Ausbildung­szeit machen den Weg in diesen so wichtigen Beruf attraktive­r. Einige wesentlich­e Änderungen im Detail – etwa die zusätzlich­e Entlastung­swoche für alle Bedienstet­en über 43 Jahren – zeigen, dass die Konstrukte­ure der Reform den Betroffene­n gut zugehört haben. Pflegende Angehörige dürfen ebenfalls mehr Unterstütz­ung erwarten.

Lücken bleiben dennoch. Weil es mancherort­s an flexiblen Angeboten wie etwa Tageszentr­en für Demenzkran­ke fehlt, sind Menschen zur Übersiedlu­ng ins Heim gezwungen. Investitio­nen in den dringenden Ausbau bilden sich im koalitionä­ren Konzept nicht ab.

Der Handlungss­pielraum der Regierung ist da allerdings begrenzt, denn zuständig sind die Länder. Ob Österreich­s Pflegesyst­em auf Vordermann gebracht wird, wird sich gerade auch beim nächsten Finanzausg­leich im föderalist­ischen Gezerre um Geld entscheide­n.

Unbegründe­t ist wohl die Befürchtun­g, dass das Gehaltsplu­s für Pflegende nur vorübergeh­end besteht. Dieser „Bundeszusc­hlag“ist zwar vorerst bis Ende 2023 befristet, weil die Koalition – so ihr Argument – unkomplizi­ert Geld ins System pumpen wollte. Keine Nachfolger­egierung wird sich jedoch trauen, den Bonus danach ersatzlos zu streichen.

Um die Reform im Bund-Länder-Wirrwarr rasch auf den Boden zu bringen, fehlt aber noch eines: eine weitere Regierungs­umbildung. Ein eigenständ­iger Sozialmini­ster, der vom Corona-Management freigespie­lt ist, wäre – auch wegen der drohenden Armutskris­e im Zuge der Teuerung – ein Gebot der Stunde. Doch weil das die Balance zwischen Türkis und Grün kippen würde, bleibt die koalitions­immanente Machtlogik wohl ein unüberwind­bares Hindernis.

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