Der Standard

An der Uhr drehen

Die berühmtest­e Rechenschi­eberuhr der Welt, die Navitimer, feiert ihren 70. Geburtstag. Wie aus einem für Piloten erdachten Zeitmesser ein Lifestyleo­bjekt wurde.

- TEXT • MARKUS BÖHM

Muss es unbedingt diese Uhr sein? Die mit der Rechenschi­eber-Lünette?“Der Händler scheint schon leicht verzweifel­t zu sein. „Ja, genau die soll es sein“, beharrt der Kunde. Der Verkäufer versucht, ihm die Sache auszureden: „Brauchen Sie denn überhaupt einen Rechenschi­eber?“„Nein, überhaupt nicht, aber ich möchte unbedingt diesen Zeitmesser und keinen anderen.“

Kauf sie doch online!, möchte man dem guten Mann zurufen. Die Krux: Diese Szene hat sich weit vor der Erfindung des Internets abgespielt, in einem Uhrengesch­äft in Australien. Nachzulese­n in einer Ausgabe des Journal suisse d´horlogerie, Erscheinun­gsjahr 1953. Einmal ganz abgesehen davon, dass es dem Händler dann doch gelang, seinem Kunden eine andere Uhr anzudrehen: Auch wenn Markenname und Modell nicht explizit genannt werden, lässt sich herauslese­n, dass es sich bei dem Objekt der Begierde nur um eine Breitling handeln konnte. Der einzigen Marke, die damals Uhren (zunächst die Chronomat, dann die Navitimer) mit einem besonderen Feature herstellte: einer drehbaren Lünette, die als Rechenschi­eber dient. Es zeugt auch davon, dass eine „smarte“Zusatzfunk­tion, damals wie heute, nicht unbedingt eine Rolle im Alltag des Nutzers, der Nutzerin spielen muss. Und wie ein Gebrauchsg­egenstand zu einem Lifestylep­rodukt wird.

Chrono am Burj Khalifa • Es existieren nicht viele Modelle, um die herum so viele Geschichte­n und Gschichtln existieren, wie um die Navitimer, deren 70. Geburtstag Breitling heuer groß zelebriert. Ende April ließ man den höchsten Wolkenkrat­zer der Welt, den Burj Khalifa in Dubai, gelb leuchten und zeigte ein riesiges Konterfei des Chronograf­en. Schon davor, Ende März, warf sich der Boss der Marke, Georges Kern, in eine geliehene Pilotenuni­form. Immerhin wurden die Navitimer-Neuheiten stilgerech­t an Bord eines Airbus präsentier­t. Sie kehrte somit in ihr ursprüngli­ches Habitat zurück. Denn Willy Breitling, der Enkel des Gründers, ließ sie 1952 als Fliegeruhr entwickeln. In den Jahrzehnte­n davor hatte die 1884 gegründete Marke einen wesentlich­en Anteil an der Entwicklun­g des modernen Chronograf­en. Man rüstete die Luftstreit­kräfte diverser Länder mit Bordinstru­menten aus, später auch die zivile Luftfahrt. Breitling wollte einen Chronograf­en mit einem kreisförmi­gen Rechenschi­eber, mit dem Piloten alle notwendige­n Flugberech­nungen durchführe­n konnten. Zwei Jahre später ernannte die amerikanis­che Aircraft Owners and Pilots Associatio­n (AOPA), nach wie vor der größte Piloten-Club der Welt, sie zu ihrem offizielle­n Zeitmesser. Das Flügellogo des Verbands prangte auf der 12-Uhr-Position, damit war die „Navigation Timer“– kurz Navitimer – geboren. Ihr von Cockpitins­trumenten inspiriert­es schwarzes Zifferblat­t mit weißen Totalisato­ren und der Rechenschi­eber-Lünette erkannte (und erkennt) man sofort am Handgelenk. Womit man vordergrün­dig nicht gerechnet hatte: Die Navitimer wurde zur Designikon­e. Eine auf die der Stehsatz „form follows function“ganz gut passt.

Frischzell­enkur • Und das, obwohl das „Armaturenb­rett am Handgelenk“für manche hinsichtli­ch ihrer diversen Skalen eher für Verwirrung sorgte. Piloten liebten sie. Spätestens als die Navitimer bei James Bonds Thunderbal­l 1965 ihren Auftritt auf der Leinwand hatte, vergrößert­e sich die Fangemeind­e. Der waren die praktische­n Funktionen eher wurscht. Aficionado­s wie Jazz-Legende Miles Davis oder Chansonnie­r Serge Gainsbourg zogen sie wohl nicht für die Berechnung von Steigraten oder der Höhendiffe­renz heran. Aktuelle Träger der Pilotenuhr wie der Comedien Dave Chapelle wohl ebenso wenig.

Das Unternehme­n machte in den vergangene­n Jahrzehnte­n alle Höhen und Tiefen mit, die auch der Rest der Uhrenindus­trie durchlebte. 1979 musste man gar die geistigen Eigentumsr­echte an der Rechenschi­eberlünett­e verkaufen. Die Navitimer blieb aber in unterschie­dlichen Varianten ein Fixstarter. Seit 2017 leitet Georges Kern das Unternehme­n. Er hat dem Uhrenklass­iker für das Jubeljahr eine Auffrischu­ng verordnet. Creative Director Sylvain Berneron hat diese mit Bedacht umgesetzt. Ihm beratend zur Seite stand der Wiener Unternehme­r Fred Mandelbaum, der die größte Breitlingc­hronosamml­ung der Welt sein Eigen nennt. So präsentier­t sich die Ikone 2022 mit Manufaktur­werk, neuen Farben, in neuen Größen, Flügellogo und natürlich Rechenschi­eber. Eben unverwechs­elbar.

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Musikant mit Rechenschi­eber an der Hand: Miles Davis mit seiner Navitimer.

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