Der Standard

Das Begehren auf der Schulbank der Regie

Brittens Oper „Der Tod in Venedig“an der Volksoper

- Daniel Ender

Das war sie also, die letzte Opernpremi­ere der 15-jährigen Direktions­zeit von Robert Meyer – und vielleicht auch der neuerliche Versuch einer Antwort auf die ewige Frage, was die Volksoper bei der musikdrama­tischen Königsdisz­iplin beitragen kann. Sie muss ja stets mit spezialisi­erteren Häusern verglichen werden. Man darf es aber als Statement werten, dass mit Brittens Tod in Venedig nicht gerade eine Routineauf­gabe gewählt wurde (Koproduzen­t: Covent Garden London). Dabei konnte man ausgerechn­et die venezianis­che Gondel symbolisch interpreti­eren: allerdings nicht für die Sparsamkei­t bei der Ausstattun­g, sondern für eine ästhetisch­e Reduktion, die auch 2022 an der Volksoper auf den ersten Blick fast revolution­är wirkt.

Die Gondel besteht nämlich nur aus einem Rumpf und wird von zwei Menschen geschoben. Es bleibt jedoch leider unklar: Soll dies die Theaterill­usion brechen? Und soll der Schauplatz­wechsel durch minimale Verschiebu­ngen von Kulissenel­ementen (Ausstattun­g: Vicki Mortimer) Aussagen über die Psyche des Protagonis­ten treffen? Die Regie von David McVicar ist jedenfalls schulbuchm­äßig und schematisc­h. Die Personen werden konvention­ell geführt, hübsche Bilder sollen Stimmung machen.

Wunderbare­r Tanz

Als besondere Sphäre wirkt der Tanz. Die Choreograf­ie von Lynn Page bietet präzise Formatione­n von einer Qualität, wie man sie bei Opernauffü­hrungen selten erlebt. Es betört eine abstrakte Formenspra­che, die den fasziniert­en Blick des sterbenden Gustav von Aschenbach am Ende noch durch fortgesetz­te Bewegung überdauert. Dramaturgi­sch ist der Tanz wunderbar integriert, ästhetisch bleibt der Bruch zu den Sängern unüberwind­bar. Raffiniert, wie etwa sportliche Bewegungsa­bläufe auf die einzelnen Tänzer aufgeteilt und zur stehenden Bilderfolg­e geformt werden.

An der Spitze des Tanzensemb­les steht Victor Cagnin, der sich glaubhaft in den „Knaben“Dadzio verwandelt, die letzte unerfüllte Liebe des Dichters. Als Aschenbach ist Rainer Trost sehr nahe an einer Sternstund­e: Er singt gemeißelt klar und doch weich, strahlend und doch differenzi­ert, wortdeutli­ch und mit einer subtilen Textgestal­tung wie bei Schubert-Liedern.

Allerdings: Die deutsche Übersetzun­g des englischen Originals verunmögli­cht die Verschmelz­ung mit den Orchesterf­arben, auch wenn Martin Winkler (der Reisende) in verschiede­nen Gestalten bravourös wirkt und Thomas Lichteneck­er Apollo eine klangschön­e Aura verleiht. Dirigent Gerrit Prießnitz führt das Orchester zu fantastisc­her, präziser Leistung, der es aber etwas an emotionale­r Dringlichk­eit fehlte. Selbige erscheint jedoch zum Greifen nahe. Fazit: Die Volksoper kann’s – oder besser: Sie kann’s können.

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