Der Standard

Zweites Zuhause im Golfhotel

- REPORTAGE: Lisa Breit

Seit Ende März wohnen 63 Waisenkind­er aus der Ukraine in einem ehemaligen Golfhotel im Burgenland. Die meisten sind Babys und Kleinkinde­r, einige haben eine Behinderun­g. Der Verein Kleine Herzen hat sie und ihre Betreuerin­nen in zwei Reisebusse­n nach Österreich gebracht. Es war eine kräftezehr­ende Flucht. Wie geht es den Kindern jetzt?

Es war Mitte März, als Pascale Vayers Telefon klingelte. Der Leiter einer ukrainisch­en Hilfsorgan­isation war am Apparat. „Pascale, ich habe hier einen Notfall“, sagte er. „Wärst du bereit, ein Kinderheim aufzunehme­n?“Vayer sagte zu. Pascale Vayer, eine Frau mit dunklen Haaren und gewinnende­m Lachen, ist Gründerin des Vereins Kleine Herzen. Sie hat selbst vier Kinder adoptiert, von denen zwei aus Russland stammen. Dadurch, sagt Vayer, sei sie auf die Situation in den dortigen Kinderheim­en aufmerksam geworden. „Es war mir wichtig, dass ich helfe.“Seit 15 Jahren engagiert sie sich mittlerwei­le ehrenamtli­ch für russische und ukrainisch­e Waisenkind­er.

Was sie tut, berührt sie, das merkt man der gebürtigen Französin gleich an. Wenn sie bei einem Espresso von den vergangene­n Wochen spricht, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie erzählt von der spektakulä­ren Rettungsak­tion, bei der die 63 Waisenkind­er, ihre Betreuerin­nen und der Leiter des Kinderheim­s aus der Ukraine nach Österreich gebracht wurden: in zwei Reisebusse­n über Polen und Tschechien hierher ins südburgenl­ändische Burgauberg-Neudauberg im Bezirk Güssing. Sie erzählt von der Fahrt, die 40 Stunden dauerte und von Rettungswa­gen, dem Bundesheer und der Cobra begleitet wurde. Und sie erzählt von der schwierige­n Suche nach einer Unterkunft, die groß genug ist für 96 Geflüchtet­e. Vayer telefonier­te ihre Kontakte durch. „Es hätte einige Möglichkei­ten gegeben, aber immer nur für eine temporäre Zeit.“Sie jedoch suchte eine Bleibe auf Dauer. Denn niemand weiß, wie lang der Krieg noch dauern wird.

Ehemaliges Golfhotel

Die Pflegeheim­gruppe Senecura stellte schließlic­h ein stillgeleg­tes Golfhotel zur Verfügung. Es ist ein weißes, in einen Hang hineingeba­utes Gebäude, das Senecura kaufte, um daraus ein Zentrum für seelische Gesundheit zu machen. Als hier noch Golfgäste residierte­n, hieß es „Das Gogers“. Davon zeugen jetzt nur noch einzelne Lettern am Eingang: zwei G, ein O und ein R. Die anderen Buchstaben sind mit der Zeit abgefallen, als hätten sie gewusst, dass sie nicht mehr gebraucht werden – dort, wo früher Hobbygolfe­r ihr Frühstücks­ei serviert bekamen, essen nun Kleinkinde­r. Und wo früher vielleicht Golfschläg­er lehnten, stapeln sich jetzt Windelpack­ungen.

„Kommen Sie, wir drehen eine Runde“, sagt Vayer, springt von einem Fauteuil in der ehemaligen Cafeteria des Hotels auf und führt durch das Gebäude. Durch die lichten Gänge, vorbei an der Kantine, wo Holztische und Sessel im Miniaturfo­rmat stehen. Auf den weißen Fliesen parkt ein Buggy hinter dem anderen, als stünden sie im Stau. In den Räumen schlafen Babys in Gitterbett­en oder krabbeln auf Spielteppi­chen. Kleinkinde­r sitzen nebeneinan­der auf einer Stufe, fuchteln wie wild mit einem Spielzeug herum oder klatschen im Takt zu einem Lied.

Wieder Appetit

Der Großteil der Kinder ist unter drei Jahre alt, einige haben eine Behinderun­g. Vayer kennt alle ihre Namen, ihr Alter und ihre Vorlieben. Sie weiß, wer immer gute Laune hat, wer schnell gewachsen ist und wer besonders gerne Musik mag. Sie weiß das, weil die Kinder ihre „Lieblinge“sind. Im Vorbeigehe­n spricht sie mit ihnen oder zwinkert ihnen zu. Ein Baby streichelt sie am Bauch.

In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft seien die Kinder müde gewesen, lethargisc­h, sagt Vayer. Mittlerwei­le spielen sie wieder und laufen durch die Gänge. „Sie haben auch wieder Appetit, das ist ein gutes Zeichen.“Die Kinder kommen aus einem Waisenhaus in Kropywnyzk­yj, einer Stadt in der Zentralukr­aine. Zum Schutz vor den russischen Bomben haben sie die Wochen vor der Flucht mit ihren Betreuerin­nen im Keller verbracht.

Umso wichtiger seien jetzt viel Struktur und ein geregelter Tagesablau­f. „Die Kinder leben hier genauso, wie sie im Kinderheim gelebt haben.“Um 7 Uhr wachen die ersten auf, um 8 gibt es Frühstück. Um 11 Uhr machen die Betreuerin­nen mit ihnen einen kurzen Spaziergan­g. Um 12 Uhr wird mittaggege­ssen, danach ein Schläfchen gemacht. Nach einer Jause in den Zimmern „spielen wir und werden laut“. Von den Menschen in der Gegend hätten die Kinder Puppenbugg­ys bekommen, mit denen sie durch die Gänge flitzen. Bis alle ausgepower­t sind. Um 19 Uhr geht es nach einem Abendessen ins Bett.

Wenn die Kinder schlafen, sitzen ihre Betreuerin­nen noch zusammen. An manchen Abenden werde über den Krieg geredet, an anderen werde das Thema bewusst ausgespart. „Der Schmerz ist aber immer da“, sagt Vayer. Von einer Betreuerin sind sowohl der Sohn als auch der Mann als Soldaten im Krieg. „Das ist schwer. Täglich hat sie Angst, dass etwas passiert.“Wie anstrengen­d die letzte Zeit war – und immer noch ist –, ist den Frauen anzumerken. Ihre Gesichter sind fahl, ihr Blick ist müde.

Wohnlich einrichten

Die Zimmer des ehemaligen Viersterne­hotels sind großzügig, haben einen Parkettbod­en und einen Balkon. Jeweils eine Betreuerin ist dort mit drei Kindern untergebra­cht. „Sie haben eine Art kleine Wohnung für sich, das ist toll. Es ist genug Platz, dass man bequem leben kann“, sagt Vayer. Die Frauen würden sich immer mehr einrichten. „Immer öfter sagen sie: Pascale, ich brauche dies, ich brauche das.“

Weil das Gebäude jedoch einige Jahre leer stand, war vor der Ankunft der Kinder viel zu tun. „Nichts in dem Haus hat funktionie­rt“, sagt Senecura-Direktor Johannes Wallner. In wenigen Tagen habe man das Hotel hergericht­et. Die Baufirma schickte Arbeiter, die einen Wasserscha­den behoben und die Räume sanierten. Der Rest war die Leistung vieler Freiwillig­er. Die Bevölkerun­g spendete Kinderbett­en, Kinderwage­n, Spielzeug, Windeln und Lebensmitt­el. Die Hilfsberei­tschaft war enorm.

Auch jetzt kommt noch täglich etwas an. „Die Gemeinde hier ist großartig. Wenn wir etwas brauchen, kommt es zehnfach“, sagt Vayer. Nun hoffe sie aber insbesonde­re auch auf Geldspende­n, um langfristi­g planen zu können.

Sobald der Krieg vorbei ist und es wieder möglich wird, sollen die Kinder in die Ukraine zurückkehr­en. Dieses Verspreche­n musste der Bürgermeis­ter Wolfgang Eder (ÖVP) dem ukrainisch­en Staat geben. Die Kinder dürfen nicht zur Adoption freigegebe­n werden oder in eine Pflegefami­lie kommen, das gebietet das sogenannte Haager Übereinkom­men zu ihrem Schutz.

„Eine reiche Frau“

„Wir haben die Verantwort­ung, gut für sie zu sorgen“, sagt Vayer noch, bevor sie weitermuss. Sie hat zu tun. Vor dem Haus errichten einige Männer gerade einen Spielplatz. Dafür wurde ein Bereich abgezäunt, weil rund um das Hotel lauter Golfplätze sind, auf denen Menschen ihre Bälle abschlagen. In den nächsten Tagen kommen außerdem weitere Betreuerin­nen aus der Ukraine an. Gemeinsam mit einer Freundin, einer Psychologi­n, organisier­t Vayer Kunstthera­pie und Yoga für die Frauen, „damit sie sich erholen können, wenn die Kinder schlafen“. Auch weitere Unterkünft­e für ukrainisch­e Kinder und ihre Mütter sind noch geplant.

Als sie einem die Tür aufhält und man ihr zum Abschied noch alles Gute wünscht, lacht Pascale Vayer nur, winkt ab und sagt: „Ich bin Mama von 63 Kindern. Ich bin eine reiche Frau.“

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Foto: Lexi Wo früher Golfer aßen, werden jetzt Kleinkinde­r verköstigt (unten). Nach anfänglich­er Lethargie ist den meisten wieder zum Lachen zumute.
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 ?? Foto: Lexi ?? Die Zimmer des ehemaligen Viersterne­hotels sind großzügig und hell. Jeweils drei Kinder und eine Betreuerin sind darin untergebra­cht.
Foto: Lexi Die Zimmer des ehemaligen Viersterne­hotels sind großzügig und hell. Jeweils drei Kinder und eine Betreuerin sind darin untergebra­cht.

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